„Alter Adel ist dekadent. Hab ich immer schon gewusst.“ Kerstin Schneider grinste ironisch.
„Was hat denn Volkers Frauenverschleiß mit Dekadenz zu tun?“ Melanies Stimme klang belegt, und der Blick, mit dem sie Volker von Sternburg und seiner neuesten Eroberung nachsah, war ein wenig verschleiert.
„Himmel, irgendwas muss es doch sein, was ihn unsympathisch macht! Ich geb mir zumindest alle Mühe, ihn in deinen Augen so erscheinen zu lassen.“ Kerstin griff nach zwei benutzten Gläsern. „So, ich bring dir jetzt noch einen Cappuccino – auf Kosten des Hauses. Und dann gehst du heim und vergisst diesen Typen endlich. Er ist es nicht wert, dass man auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet.“
Das sah Melanie anders. Aber den Einwand behielt sie lieber für sich. Nerven, sich auf eine Diskussion mit ihrer Freundin einzulassen, hatte sie heute nicht mehr. Ein harter Tag lag hinter ihr. Erst fünf Stunden Vorlesung, dann eine Schicht im Krankenhaus. Dort hatten vier ausgebildete Pflegerinnen sich einen Grippevirus eingefangen – und Melanie musste einspringen, so gut sie es vermochte.
Normalerweise arbeitete sie nur nachts als Hilfsschwester in der Privatklinik von Professor Kahlenbach. Damit verdiente sie sich ihr Medizinstudium. Ins Café „Heaven & Hell“ war sie gekommen, um sich kurz abzulenken. Und weil du gehofft hast, hier Volker zu sehen, sagte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Na, hast du ja jetzt. Und Zusatzfrust. Selber schuld.
„Ich muss dann auch los. Bin hundemüde.“ Sie trank den Cappuccino noch rasch aus, umarmte die Freundin und verließ das Café, in dem etliche Studenten verkehrten, aber auch junge Künstler, Film- oder Fernsehstars – und solche, die es werden wollten.
Kerstin hatte den Job als Bedienung durch Vermittlung ihres Freundes Tim bekommen. Er war Regieassistent in den bekannten Münchner Studios und kannte buchstäblich Gott und die Welt. Tim Ahrens, auf den ersten Blick farblos wirkend, besaß einen scharfen Verstand, trockenen, bissigen Humor – und unendlich viele Beziehungen.
„Er ist ebenso süß wie nützlich“, pflegte Kerstin über ihn zu sagen.
„Das klingt immer so lieblos!“, hatte Melanie die Freundin schon oft gerügt.
„Ach was, das ist realistisch. Und tut unserer Liebe keinen Abbruch. – Es kann ja nicht jeder so ein verkitschtes Gemüt haben wie du.“
„Ich bin nicht verkitscht!“
„Doch. Bist du. Na ja, man kann’s auch romantisch nennen. Ist im Endeffekt egal. Hauptsache, du bleibst meine beste Freundin.“ Lachend hatte Kerstin Melanie umarmt.
„Verrücktes Huhn, du!“
Ja, verrückt war Kerstin wirklich. Als freie Grafikerin besaß sie einen guten, aber etwas extravaganten Geschmack. Sie kleidete sich schrill, aber immer stilsicher. Und ihr Herz war groß und weit. Wer einmal ihre Freundschaft besaß, hatte die für immer.
Melanie, die aus einem kleinen Ort in Westfalen stammte, war froh, hier in München schon bald auf Kerstin getroffen zu sein. Am Anfang wäre sie in der Großstadt doch wohl zu einsam gewesen.
„Achtung, Gegenverkehr!“ In Gedanken versunken, wäre sie fast mit einem Mann zusammengestoßen, der eben ums Straßeneck kam.
„’tschuldigung.“
„Keine Ursache. Wir können uns auch noch näher kommen!“ Schon streckte der Mann, der sichtlich angetrunken war, die Arme nach ihr aus.
„Finger weg!“ Die Stimme kam aus der Dunkelheit, und dann stand auch schon Volker von Sternburg neben Melanie.
„Ist ja gut. Mach mal keinen Stress.“ Der Fremde trollte sich.
„Danke. Ich... ich wär schon mit ihm fertig geworden.“
„Sicher. Aber so war’s doch einfacher.“ Er lächelte, und Melanie spürte, dass gleich ihre Knie weich werden würden. Halt suchend griff sie zur Hauswand.
„Hey, mach jetzt nur nicht schlapp!“ Mit einem Satz war er neben ihr, stützte sie. „Komm, ich bring dich heim. Wo wohnst du?“ Wie selbstverständlich duzte er sie, dabei kannten sie sich nur flüchtig vom Sehen.
„Bodestraße. Das ist ganz in der Nähe. Ich kann da allein...“
„Nichts da. Keinen Schritt.“
Und so saß sie eine Minute später in einem schwarzen Sportwagen. Neben ihrem Traummann. Der seltsamerweise allein war... Warum? Wo war seine attraktive Begleiterin geblieben?
„Da ist es schon. Danke fürs Bringen.“ Sie wollte die Wagentür aufstoßen, aber da war Viktor von Sternburg schon ausgestiegen und half ihr höflich aus dem Wagen.
„Du kommst wirklich klar?“ Besorgt sah er sie an.
„Ja... danke.“ Sie ging in Richtung Haustür, zwang sich dazu, noch einmal lässig zu winken und schloss die alte, grün gestrichene Holztür mit dem Rautenmuster auf. In der nächsten Sekunde hörte sie es: Bremsen kreischten, Metall knirschte, Glas splitterte. Und dann war da ein kurzer, heller Schrei, ein Stöhnen... Gleich darauf brauste eine Limousine in höchster Geschwindigkeit davon.
„So ein verdammtes Arschloch!“
Also, das klang nicht sehr vornehm-aristokratisch, kam Viktor aber aus tiefstem Herzen. Er rappelte sich auf, taumelte – und jetzt war es Melanie, die ihn stützte.
„Sind Sie verletzt? Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“
„Mein Bein... verdammt, ich kann nicht auftreten!“ Er wies auf sein linkes Bein.
Melanie bückte sich, aber als sie den Fuß, der seltsam verdreht wirkte, auch nur berührte, stöhnte Viktor auf.
„Ich rufe die Rettung. Und die Polizei.“ Als er widersprechen wollte, winkte sie ab. „Das ist notwendig. Ich studiere Medizin. Zwar erst im vierten Semester, aber der Fuß ist mit Sicherheit gebrochen, soviel kann ich feststellen.“ Sie wies auf den Sportwagen. „Die Tür ist abgerissen.
„Fahrerflucht. Den Kerl kriegen die nie.“ Viktor ließ sich zu den Stufen, die zu Melanies Haustür führten, helfen. Er sah ein, dass er ärztliche Hilfe brauchte.
„Wenn Sie mich nicht gebracht hätten... es tut mir so leid.“ Melanie biss sich auf die Lippen.
„Quatsch. Das hätte immer und überall passieren können. Und wenn schon, dann am liebsten mit Ihnen.“ Er versuchte ein charmantes Lächeln. Aber heute entglitt es, die Schmerzen waren einfach zu stark. Und so war er erleichtert, als Polizei und Krankenwagen eintrafen.
Die Bürokratie war rasch erledigt, der Transport in die nahe gelegene Klinik vorbereitet. Aber ehe die Sanitäter ihn in den Krankenwagen schoben, winkte Viktor Melanie zu sich. „Hier, meine Karte. Falls Sie mal wissen wollen, wie es mir geht.“
„Ich... ich werde anrufen.“
Zum Glück schlossen die Sanitäter die Türen, einer der Polizisten kümmerte sich um den ramponierten Sportwagen. Melanie musste ihre Personalien angeben, schließlich war sie eine Zeugin. Und dann, endlich, war dieser aufregende Tag vorbei.
Na ja, was hieß hier vorbei? Stundenlang lag Melanie wach. Und träumte mit offenen Augen.
+ + +
„Oliver hat sein Kommen angesagt.“ Joachim von Sternburgs Stimme klang alles andere als begeistert. „Bin gespannt, was er will.“
„Na, was wohl. Geld.“ Gräfin Nora ließ sich in dem Gobelinsessel nieder, der dem Schreibtisch ihres Mannes gegenüber stand. „Aus einem anderen Grund kommt er doch bestimmt nicht hierher an den Chiemsee. Hier ist doch nichts los. Hier gibt’s nur Pferde, Wiesen und Weiden, Arbeit und nochmals Arbeit. Keinerlei Jetset-Mitglieder.“
„Du hast Recht. Leider. Oliver ist und bleibt nun mal das Schwarze Schaf.“
„So was gibt’s schließlich in jeder guten Familie, nicht wahr?“ Die Gräfin, sportlich und schlank, lächelte ironisch. „Warum soll es uns besser gehen?“
„Wenn nur nicht Joachim in die Fußstapfen seines Onkels tritt. Der Junge nimmt sein Studium einfach nicht ernst genug. Und jetzt noch dieser Beinbruch...“
„Du sagst es: Das Bein ist kaputt, nicht der Kopf. Vielleicht findet unser Sohn jetzt endlich Zeit, für sein Examen zu büffeln.“ Nora von Sternburg liebte ihren einzigen Sohn sehr, aber sie kannte seine Schwächen genau. Und tolerierte sie absolut nicht! „So, und jetzt zur Arbeit: Die Saatbestellung hab ich fertig, auch die Papiere für die beiden Zuchtstuten, die wir an die Araber verkauft haben.“
„Endlich mal wieder ein gutes Geschäft. Das war auch dringend nötig.“ Graf Sternburg leitete nicht nur sehr geschickt das große Gut, das oberhalb des Chiemsees lag und seit fast dreihundert Jahren in Familienbesitz war. Er war im Vorstand einiger europaweit agierender Unternehmen, zudem war er Seniorpartner einer Anwaltskanzlei in München, die weit über die bayrischen Grenzen hinaus einen exzellenten Ruf besaß. Doch wann immer es ihm möglich war, hielt er sich auf dem Gut am Chiemsee auf, dessen Leitung seit etlichen Jahren in den Händen eines Verwalters lag. Sebastian Kurts war ebenso kompetent wie loyal, er arbeitete selbstständig, schätzte es aber, wenn sich die Sternburgs über alle Aktivitäten auf dem Laufenden hielten.
Gerade als sich Gräfin Nora darüber informieren wollte, welche gesellschaftlichen Verpflichtungen anstanden, erklang von draußen lautes Hupen.
„Oliver! Wie immer rücksichtslos und unüberhörbar.“ Ärgerlich runzelte Joachim die Stirn, ging aber hinüber in die Halle, um seinen jüngeren Bruder zu begrüßen.
Ein knallgelber Ferrari parkte vor der Freitreppe, und mit langen Sätzen sprang Oliver von Sternburg zum Eingang hoch. Lässig in Jeans, mit Versace-Hemd und handgenähten Slippern an den Füßen, wirkte er wie der sprichwörtliche Playboy. Was er auch war.
Monatlich erhielt er eine gewisse Summe als stiller Teilhaber der Unternehmensgruppe Sternburg. Geld, das ihm ein sorgenfreies Leben ermöglichte. Nur oft nicht reichte, denn Oliver war maßlos. In seinen Ansprüchen. In seinem Lebensstil. Nie hatte er genug. Immer wollte er mehr. Mehr Spaß. Mehr Freunde. Mehr Konsumrausch. Mehr Abwechslung. Mehr. Von allem mehr.
Und so musste er auch jetzt wieder heim und zu Kreuze kriechen, wie er es still für sich nannte. Denn er war mal wieder blank. Zu üppig die Feste an der Riviera. Zu lang und kostenintensiv der Trip mit zwei heißen Mädchen auf die Bahamas. Zu teuer die neue Wohnung in London, von der die Familie nichts wissen sollte. Schließlich musste er ein Nest ganz für sich haben. Um gegebenenfalls mal für eine Weile abtauchen zu können. Weg von der Clique, von der Familie – und gewissen Beamten, die in ihren Nachforschungen nicht mal vor einem Adelsspross Halt machten.
„Hallo, Familie!“ Er lächelte strahlend, umarmte Nora und schlug Joachim kurz auf die Schulter. „Schön, mal wieder daheim zu sein. Alles klar bei euch?“
„Mit einer kleinen Einschränkung – ja.“
„Was ist passiert?“
„Volker ist verunglückt. Ein Beinbruch. Dummerweise steht er kurz vor dem Staatsexamen.“
„Das packt er schon.“ Oliver winkte lässig ab. „Und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm.“
Das sahen Volkers Eltern allerdings anders, schließlich war es der zweite Anlauf des Jurastudenten, das wichtige Staatsexamen abzulegen. Mit möglichst guter Note.
„Ich mach mich ein bisschen frisch. Sabine soll sich um mein Gepäck kümmern. Bis dann.“ Und schon entschwand er in seinem großzügig geschnittenen Appartement im Ostflügel des Hauses.
Eine kurze Dusche, dann ließ er sich in einen der Designersessel fallen, die er aus USA hatte kommen lassen, griff zum Telefon und führte ein paar wichtige Gespräche.
Das erste war kurz. Die Information ging an einen Mittelsmann, der in Zürich saß und lautete: „Alles unter Dach und Fach. Das Geschenk kann abgeholt werden.“ Anschließend rief er zwei alte Freunde in Kitzbühel an, dann seine derzeitige Favoritin, eine junge Dänin, die er auf einem Segeltörn im Mittelmeer kennengelernt hatte.
Dörte war gerade mal zwanzig. Langbeinig. Bildhübsch. Ehrgeizig – und von ganz ähnlicher Skrupellosigkeit wie Oliver. Nimm dir, was das Leben dir bietet – das war ihre Einstellung. Und so nahm sie sich den reichen Partygänger Oliver von Sternburg – und partizipierte von seinen Kontakten, seinem Namen, seinem Geld.
„Ich werd mich bestimmt eine Woche hier am Chiemsee aufhalten müssen“, erklärte ihr Oliver jetzt. „Es ist notwendig, glaub mir. Freiwillig würde ich mich sicher nicht hier in der Provinz vergraben.“
„Aber du fehlst mir.“ Gekonntes Schmollen lag in der Frauenstimme, die zu hell war, um wirklich erotisch zu klingen.
„Dann komm doch her. Eine Aufheiterung könnte ich brauchen.“
„Aber deine Familie...“
„Was kümmert mich die denn? Ich hab dich eingeladen, also komm her.“
„Vielleicht.“
„Sicher. Bis spätestens übermorgen.“ Er lachte freudlos. „Glaub nicht, das du nicht zu ersetzen bist, Honey.“
„Mistkerl. Warum lieb ich dich nur so sehr?“
„Weil du ein kluges Mädchen bist. So long.“
Noch während er das Handy zuklappte, griff Oliver nach einem kleinen weißen Tütchen, schüttete etwas von dem Pulver auf die Glasplatte des Schreibtischs – und fühlte sich schon wenige Minuten später gut genug, um das Abendessen mit Bruder und Schwägerin durchzustehen.
An diesem Abend ging er früh schlafen, doch schon am folgenden Tag fuhr er nach München und traf sich mit Freunden. Dass er Dörte eingeladen hatte, vergaß er...
Das Model stieg gegen Abend aus einem Taxi und sah sich suchend um. So groß hatte sie sich das Gut der Sternburgs nicht vorgestellt. Oliver hatte immer von einer „Klitsche“ gesprochen. Na ja, vielleicht hatte sie den deutschen Begriff nicht ganz richtig verstanden.
Dörte zögerte, ob sie einfach läuten sollte. Olivers Name stand nirgendwo... aber er musste ja hier wohnen!
„Hallo, suchen Sie jemanden? Kann ich Ihnen helfen?“ Ein Mann in Reitkleidung kam aus der Tür.
„Ich... ich möchte zu Oliver. Er hat mich eingeladen.“
„Mein Bruder ist leider nicht da. Aber bitte, kommen Sie herein.“ Joachim von Sternburg ließ sich nicht anmerken, dass er verärgert war. Höflich führte er die junge Frau ins Haus, orderte bei der Hausdame Kaffee und Gebäck und machte Konversation, bis Gräfin Nora auftauchte und sich um den Überraschungsgast kümmerte.
„Ich... ich kann auch wieder gehen“, meinte Dörte. „Sicher störe ich Sie.“
„Ach was. Oliver hat sich bestimmt nur verplaudert. Er wird sicher gleich kommen.“
„Sein Handy ist ausgeschaltet.“ Dörte biss sich auf die Lippen. „Nein, nein, ich fahre wieder.“
Im ersten Impuls wollte Nora zustimmen, doch dann siegte ihre Höflichkeit. „Sie können gern bleiben. Wir haben sehr gemütliche Gästezimmer. Bitte – Sie sind uns herzlich willkommen.“ Insgeheim verfluchte sie Oliver. Er war kaum aufgetaucht, da gab es schon wieder Komplikationen. Hoffentlich beschränkten sie sich auf diesen ungebetenen, wenn auch bildhübschen Gast.
+ + +
Ein heftiges Frühjahrsgewitter hatte Münchens Straßen leergefegt. Regen, zum Teil noch mit Hagel versetzt, stürzte vom Himmel. Dazwischen zuckten Blitze auf, Donner grollte.
„Meine Güte, so ein Sauwetter!“ Tim Ahrens schüttelte sich die Regentropfen aus dem Haar. „Du kannst froh sein, dass du nicht raus musst.“
„Es ist auch nicht prickelnd, tagein, tagaus hier rumzusitzen. Langsam krieg ich einen Koller.“
Tim lachte. „Du bist noch keine drei Wochen krank! Ach was – krank! Du hast ein Gipsbein, das ist alles!“
„So was nennt sich Freund!“ Volker saß lässig in einem Relaxsessel, das Gipsbein hoch gelagert und ein Buch in der Hand.
„Krimi oder Fachbuch?“, fragte Tim.
„Krimi. Schließlich hatte ich gestern Prüfung. Jetzt hab ich mir Entspannung verdient.“
„Und? Wie war’s?“
„Ich hab ein ganz gutes Gefühl.“ Viktor legte das Buch zur Seite und schwang gekonnt das Gipsbein zur Erde. „Was willst du trinken?“
„Einen Campari mit Soda. Aber lass nur, ich nehm mir selbst.“ Schon ging Tim zur kleinen Bar, die in einem antiken Eckschrank eingerichtet war. „Ich muss gleich noch in die Kahlenbach-Klinik. Da liegt eine unserer Schauspielerinnen mit Gallenkolik. Sie braucht ein Drehbuch.“
„Und du spielst Postminister. Gehört das neuerdings zu deinem Job als Regieassistent?“ Grinsend sah Viktor den Freund an. „Sie scheint es wert zu sein.“
„Stimmt. Juliane Haberland ist einer der ganz wenigen großen Stars unseres Landes. Und ich tu ihr gern den Gefallen.“
„Juliane Haberland... die ist mindestens fünfzig.“
„Na und? Das ist keine ansteckende Krankheit.“ Tim grinste. „Jetzt tu nicht so abgebrüht. Komm einfach mit. Danach gehen wir ins ‚Blue Velvet’.“
„Also gut. Aber nur, weil der Krimi langweilig ist. Und zu eurem Filmstar gehst du allein. Ich warte so lange draußen.“
„Bei dem Wetter wirklich sehr empfehlenswert.“ Tim grinste. Der Regieassistent arbeitete hart. Nach einem Jahr Ausbildung in USA versuchte er jetzt, mit den namhaftesten Regisseuren Deutschlands zusammenzuarbeiten. Seine Zähigkeit hatte sich herumgesprochen, ebenso die Tatsache, dass er kreativ und hoch begabt war. Dennoch blieb er stets bescheiden und hilfsbereit.
Juliane Haberland, die „grande dame“ des deutschen Films, war dankbar, als er ihr neben einem Blumenstrauß das neue, eben vom Regisseur umgeschriebene Drehbuch brachte.
„Hat er es mal wieder nicht lassen können“, spöttelte sie. „Immer muss Rolf mitmischen. Aber es ist vielleicht besser geworden als das Original. Mal sehen.“
„Ich lasse Ihnen alles hier – und auch noch eine Rohfassung für ein Fernsehspiel.“ Er biss sich kurz auf die Lippen, dann gestand er: „Ist übrigens von mir.“
Die Kranke lachte. „Raffiniert sind Sie, das muss man Ihnen lassen. Aber gut, ich wird’s mir ansehen. Und jetzt – guten Abend.“
„Ihnen eine gute Nacht – und gute Besserung.“ Ein bisschen verlegen zog sich Tim zurück. Es war mutig – und ziemlich unverschämt von ihm gewesen, das selbst erstellte Treatment der Schauspielerin unterzujubeln. Aber... diese Gelegenheit musste wahrgenommen werden! Juliane besaß wahnsinnig viel Einfluss in der Branche!
Unten in der Halle sah er sich vergeblich nach Volker um.
Der war ein paar Minuten auf und ab gegangen mit seinen Krücken – und hatte auf einmal Melanie entdeckt!
„Hallo, Lebensretterin! Wollten Sie mich nicht anrufen und sich nach meinem Befinden erkundigen?“ Er winkte mit der Krücke, wobei er fast das Gleichgewicht verloren hätte.
Melanie zuckte zusammen. Sie hatte tagelang versucht, Volker zu vergessen. Diese dunklen Augen, das viel zu charmante Lächeln... Und jetzt sah er sie wieder so intensiv an, dass sich ihr Pulsschlag verdoppelte.
„Herr von Sternburg! Wie geht es Ihnen? – Achtung!“
Im letzten Moment konnte Volker einem kleinen Rollstuhlfahrer ausweichen, der mit Schwung um eine Blumenbank gefahren kam, die als Raumteiler diente.
„Immer, wenn ich in Ihre Nähe komme, wird’s gefährlich.“ Volker griff nach Melanies Hand. „Dagegen müssen wir was tun. Wie wär’s mit einem Drink? Haben Sie gleich Zeit? Ein Freund und ich wollen ins ‚Blue Velvet’. Da gibt’s ganz guten Jazz.“
„Tut mir leid, aber ich habe heute Nacht Dienst.“
„Sie arbeiten hier?“
„Als Aushilfspflegerin, ja.“
Stirnrunzelnd sah er sie an. „Mir haben Sie gesagt, Sie studieren Medizin!“
„Stimmt. Aber davon wird man nicht satt. Deshalb dieser Job hier.“
„Aha...“ Ziemlich blöd kam er sich plötzlich vor. Da hatte er wieder mal nicht bedacht, dass nicht alle Studenten sorglos vor sich hin lebten, sondern die meisten zusätzlich hart arbeiten mussten, um das Semester zu überstehen.
„So, ich muss jetzt los. Gute Besserung für Ihr Bein.“
„Halt!“ Er wollte sie am Arm fassen, verlor fast wieder die Balance. „Bitte... können wir uns wiedersehen? Ich... ich würde Sie... also, ich möchte dich gern näher kennenlernen.“ Verdammt, das klang altmodisch und gestelzt wie aus einem Groschenroman. Aber irgendwas hatte dieses Mädchen, das ihn an einer lockeren Anmache hinderte.
„Aber ich hab keine Zeit. Wirklich nicht.“ Ein kurzes Heben der Hand, dann war sie verschwunden.
„Nicht mit mir!“ Volker grinste, als er zum Blumenstand humpelte, der links vom Klinikeingang stand. Spontan kaufte er alle zartgelben Rosen, die es gab. Und wusste dann nicht, an wen er sie schicken sollte.
„Melanie heißt sie.“ Er grinste die Verkäuferin an. „Mehr weiß ich nicht.“
„Das ist ausgesprochen wenig. Und jetzt?“
„Versuchen Sie die Blumen irgendwie zuzustellen. Sie heißt Melanie. Ist Studentin. Jobbt hier als Aushilfsschwester. Na ja, wenn nicht, hab ich Pech gehabt.“
Als Tim zurückkam, wirkte Volker nachdenklich. „Ich hab sie wiedergesehen“, sagte er.
„Wen?“
„Melanie. Sie arbeitet hier. Wusstest du das?“
„Nein. Aber dass sie immer wieder mal einen Job hat, ist klar. Schließlich hat sie von zuhause nichts zu erwarten. Die Eltern sind nicht gerade wohlhabend, soviel ich weiß.“
„Weißt du wenigstens ihren Nachnamen?“
„Sattler. Melanie Sattler!“
„Super.“ Volker hastete so schnell wie möglich zum Blumenstand zurück. „Sattler heißt sie. Haben Sie gehört – Sattler!“
„Geht in Ordnung.“ Die Blumenhändlerin grinste. „Na, da hat’s aber einen schwer erwischt!“
Das stellte Tim im Lauf des Abends auch fest, denn Volker hatte nur ein Thema: Melanie.
„Du scheinst ja wirklich hin und weg zu sein“, meinte er.
„Sie ist etwas Besonderes.“
„Hmm.“ Tim wurde auf einmal ernst. „Das ist sie ganz bestimmt. Also richte dich danach.“
„Wie meinst du das?“
„So, wie ich es gesagt hab: Sie ist keins deiner Häschen. Mal eben ins Bett und hopp. Ich glaub, Kerstin würde dir die Augen auskratzen, wenn du so mit ihrer Freundin spielen würdest.“
„Daran denkt ja keiner.“
„Nein? Da bin ich mir nicht so sicher, mein Lieber.“
Volker zog es vor, schnell das Thema zu wechseln. Natürlich wollte er mit Melanie ins Bett. So wie mit allen schönen Mädchen. Aber irgendwie hatte Tim schon Recht: Bei ihr war alles ein bisschen anders...
Melanie war anders.
+ + +
„Bin ich froh, wenn endlich dieser verdammte Gips ab ist!“ Wütend klopfte sich Volker gegen das Bein. „Gar nichts kann ich tun – nicht reiten, nicht in die Disco, nicht mal zum letzten Skiwochenende nach St. Moritz konnte ich mit!“
„Du tust mir von Herzen leid. Wenn ich ein bisschen mehr Zeit hätte als armer Arbeitnehmer würde ich dich glatt bedauern.“
„Spotte du nur! Dir ist ja auch nicht ätzend langweilig.“
„Versuch’s doch mal mit Arbeit. Höchst abwechslungsreich.“
„Ach ja – und was soll ich tun, zum Beispiel?“
„Mir einen exzellenten Cappuccino kochen. Schließlich besitzt du eine sündteure Maschine – also lass sie an.“ Tim Ahrens grinste. Seit Tagen hatte Volker schlechte Laune. Und lebte sie natürlich hundertprozentig aus!
Hauptleidtragender war Tim. Was er ertrug. Erstens gehörte sich das so als bester Freund, zweitens wagte sich kaum noch einer von den Kumpels in Volkers Nähe, drittens – und das wog am schwersten – wusste Tim genau, was der Grund für diese Weltuntergangsstimmung war. Das Bein jedenfalls nicht!
„Sie meldet sich nicht.“ Volker humpelte zum Kaffeeautomaten, holte den Cappuccino und gleich auch ein paar Sandwiches, die er in einem nahe gelegenen Delikatessenladen geordert hatte.
Tim kommentierte es mit dankbarem Nicken, trank einen Schluck und griff dann ungeniert zu. „Gute Idee. Ich hab seit dem frühen Morgen nichts mehr zwischen die Zähne gekriegt.“
„Hörst du mir zu? Sie meldet sich nicht!“
„Dann tu du es doch. Sie ist vielleicht nicht der Typ, der von sich aus die Initiative ergreift.“
„Aber ich bin gehandicapt!“
„Meine Güte!“ Tim fasste sich an den Kopf. „Langsam glaub ich wirklich, dass du noch ’nen anderen Schaden hast als den Beinbruch! Hast du die Stimme verloren? Oder alle Finger gebrochen, sodass du nicht die Tasten eines Telefons bedienen kannst?“ Er schüttelte den Kopf. „Mensch Alter, du bist nicht wiederzuerkennen.“
Volker zuckte nur mit den Schultern. Er wusste ja auch nicht, was los war. Aber Melanie... sie geisterte Tag und Nacht durch seine Gedanken. Das war wie ein Fieber, das ihn von innen her verbrannte...
„Weißt du was? Wir gehen was trinken.“
Normalerweise hockte Tim am liebsten im ‚Blue Velvet’, da er Jazz liebte. Oder im ‚Heaven or Hell’. Heute lenkte er seinen Wagen in Richtung P1. Die Nobeldisco war der Tummelplatz aller Reichen und Schönen – und der Promis, die gesehen werden wollten. Volker war hier bekannt, Tim selbst auch, und so kamen sie ohne weiteres am Türsteher vorbei.
Keine zwei Drinks später waren sie von ein paar langbeinigen Schönheiten umringt. Und Volker hatte seine Depression vergessen. Zumindest machte es den Anschein, denn er knutschte selbstvergessen mit einer Rothaarigen, seine Hand verirrte sich in ihren Ausschnitt...
Na also, das alte Spiel beginnt aufs Neue, dachte Tim und sah amüsiert diesem heißen Flirt zu. Er kannte Volker schließlich besser als der Freund sich selbst. Wahre Liebe, tiefe Gefühle... nein, die traute er ihm nicht zu. Dass er sich wegen Melanie grämte, hatte bestimmt mehr mit seinem augenblicklichen Handicap zu tun und mit gekränkter Eitelkeit, aber sicher nichts mit unerfüllter Liebe.
Tim dachte an Kerstin. Ein Glück, dass er sie gefunden hatte! Kerstin war offen, ehrlich, gradlinig. Und stand mit beiden Beinen fest im Leben. Im Moment herrschte Ebbe, was die Auftragslage betraf, und da sie als Grafikerin gerade nichts verdiente, jobbte sie eben mal wieder als Kellnerin. Zeit hatten sie nicht viel füreinander, doch das tat der Liebe keinen Abbruch.
„Hey, Alter, es ist fast zwei. Ich muss heim. In fünf Stunden muss ich in Geiselgasteig sein.“
Volker reagierte kaum. Er hatte entschieden zu viele Drinks gehabt in den letzten beiden Stunden. Links saß eine langbeinige Rothaarige und schmiegte sich an ihn, rechts eine kleine, zierliche Asiatin. „Kein Problem“, grinste er. „Ich komm schon heim.“
„Wir bringen dich ins Bettchen“, lachte die Rothaarige albern.
„Das könnte euch so passen!“ Tim hielt es für besser, einzuschreiten. „Ich bringe dich nach Hause, Volker.“
„Ach was, gerade wird’s gemütlich. Und da... hey, das ist doch Oliver!“ Er hatte einen hoch gewachsenen Mann entdeckt, der an der Bar stand und sich jetzt langsam umdrehte. „Mein alter Onkel Oliver!“ Er rief nochmals, winkte...
Trotz des Lärms schien Oliver von Sternburg auf ihn aufmerksam geworden zu sein, denn er glitt vom Barhocker und kam grinsend auf die kleine Gruppe zu.
„Mensch, Alter, bist du endlich mal wieder im Land! Das hat mir gar keiner erzählt.“
„Wundert es dich?“ Oliver grinste. „Die Rückkehr des Schwarzen Schafs wird nicht an die große Glocke gehängt.“ Er winkte der Bedienung. „Noch eine“, bestellte er und wies auf die Champagnerflasche, die kopfüber im Eiskühler steckte.
Die Mädchen rückten bereitwillig ein bisschen zur Seite – doch nur so viel, dass der gut aussehende Mann, der sichtlich Geld besaß und in den besten Jahren war, noch Platz hatte.
Wenn sie sich auch nicht oft sahen, so konnten es Volker und sein Onkel doch recht gut miteinander. Die lockere Art Olivers gefiel dem Jüngeren, und hin und wieder wünschte er sich, so zu sein wie Oliver. Der lebte sein Leben, schiss was auf Konventionen oder Traditionen, scherte sich einen Deut um die Verpflichtungen, die man angeblich dem Namen gegenüber hatte. Nein, Oliver machte es richtig, der genoss Geld und Leben in vollen Zügen!
Dass seine Eltern das anders sahen – normal! Und nicht anders zu erwarten. Sie waren eben manchmal engstirnig. Viel zu verhaftet in ihrem gesellschaftlichen Status, zu bestrebt, die gesellschaftlichen Regeln nicht zu verletzen. Spießer mit Adelsprädikat eben! So hatte Oliver seinen älteren Bruder mal genannt. Volker erinnerte sich noch genau daran. Das war vor sechs Jahren zu Weihnachten gewesen. Damals hatte es einen Heidenzirkus gegeben – und Oliver hatte das Gut verlassen und war lange Zeit nicht heimgekehrt.
Was damals geschehen war... er hatte es nie herausgefunden. Aber er wusste noch, wie wütend sein Vater gewesen war. Und dass ein paar Männer, die verdächtig nach Kriminalpolizei ausgesehen hatten, damals auf dem Gut herumgeschnüffelt hatten...
Fragen hatte er etliche gestellt, doch nie eine befriedigende Antwort bekommen. Und dann hatte er den Zwischenfall wieder vergessen. Zu viel passierte in seinem eigenen Leben, als dass er sich um das eines knapp zwanzig Jahre älteren Onkels hätte Gedanken machen können.
Jetzt aber war er froh, Oliver wieder mal in der Nähe zu haben. Das versprach Abwechslung!
Und wirklich – die Nacht im P1 wurde sehr lang. Und sehr feucht-fröhlich. Volker wusste hinterher nicht mehr genau, was alles passiert war. Irgendwann war er müde geworden, aber Oliver hatte ihm eine Pille gegeben – und er war schlagartig wieder top da gewesen. Er hatte sogar trotz Gipsbein mit der süßen Asiatin, die sich Kim nannte, getanzt. Einer der vielen Fotografen, die sich immer wieder einschlichen, hatte sie auch fotografiert...
Oliver hingegen kam es sehr gelegen, dass sich die Aufmerksamkeit einiger Gäste auf seinen Neffen konzentrierte. Er traf sich mit zwei anderen Männern in einer Nische, sie redeten, ein paar Briefumschläge wechselten den Besitzer – dann ging Graf Steinburg wieder zu der fröhlich feiernden Gruppe seines Neffen.
Es war schon fast hell, als sie endlich heim gingen. Der Einfachheit halber schlief Oliver bei Volker. Es war später Vormittag, als beide fast gleichzeitig wach wurden.
„Wow... hab ich einen Kater!“ Volker fasste sich an den schmerzenden Kopf.
„Bist du vielleicht entwöhnt?“ Graf Oliver grinste anzüglich. „Hast wohl zu viel studiert, was?“
Volker zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich hab mich schon ein bisschen reingehängt in letzter Zeit. Zweimal durchs Examen rasseln wäre nicht so prickelnd gewesen.“
„Und – wie ist es ausgegangen?“
„Keine Ahnung. Aber in ein paar Tagen werden die Ergebnisse bekannt gegeben. Wenn ich aber jetzt nicht schnell eine Kopfschmerztablette krieg, erleb ich das nicht mehr.“ Er kniff die Augen zusammen. „Himmel, was hab ich denn alles getrunken?“
Oliver verkniff sich eine Antwort. Er ahnte, woher die Beschwerden rührte. Wer die Muntermacher, die er selbst hin und wieder konsumierte und von denen er gerade Nachschub erhalten hatte, nicht kannte, reagierte am Anfang schon mal mit einem gehörigen Kater.
„Ich hole uns was zum Frühstück“, meinte er. „Danach geht’s dir sicher besser. Und anschließend könnten wir zusammen an den Chiemsee fahren, was meinst du?“
„In Mamas Obhut... nein, ehrlich, das muss ich mir nicht geben.“
Oliver grinste nur. Er konnte sich vorstellen, wie besorgt seine Schwägerin war. Volker war ihr Ein und Alles, sicher hätte sie ihn gern in Watte gepackt, jetzt, wo er verletzt war.
Allein in der Wohnung, überfiel Volker wieder das heulende Elend. Dieser Mist-Gips! Noch drei Tage, dann kam er endlich ab! Und Melanie... sie rief einfach nicht an!
Zum wiederholten Mal versuchte er sie zu erreichen, doch nur die Mailbox meldete sich.
„Hier ist noch mal Volker. Bitte, ruf doch mal bei mir an. Ich hab immer noch diesen elenden Gips und kann mich nur schwer bewegen.“ Ob das ihr Mitleid erweckte?
Auf einmal kam ihm ein Gedanke: Hatte Tim vielleicht zu viel verraten? Von seinen Eskapaden erzählt? Ihn irgendwie mies aussehen lassen in Melanies Augen? Schließlich waren Melanie und Tims Freundin Kerstin eng befreundet, da lag es doch nahe...
Er wählte die eingespeicherte Nummer des Freundes. Aber auch hier nur die Mailbox – Tim arbeitete!
Der Tag war versaut, da mochte kommen, was wollte!
+ + +
„Er hat schon wieder angerufen!“ Melanies Augen glänzten. „Was soll ich nur machen, Kerstin?“
„Nichts. Wie gehabt.“
„Aber... er hält mich sicher für eine blöde Zicke.“
„Na und? Besser das, als dass du zu einer weiteren Trophäe in seiner Sammlung wirst. Oder... stehst du da vielleicht drauf?“
„Unsinn. Das weißt du genau. Aber irgendwie nett ist er schon.“
„Nett! Mein Kaninchen war auch nett!“ Kerstin schnaubte durch die Nase. „Ich kenne ein paar von Volkers Geschichten. Du, dafür bist du mir wirklich zu schade!“
Melanie zog es vor, das Thema schnell wieder zu wechseln. Kerstin war wirklich nicht gut auf Volker von Sternburg zu sprechen. Dabei hätte er der absolute Traummann sein können. Er sah aus wie der junge George Clooney, wirkte charmant, kam aus bester Familie...
Ach ja, seine Familie. Auch ein Grund, ihn ganz schnell wieder zu vergessen. Alter Adel. Wenn auch nicht Hochadel. Aber doch sicher mit einem Stammbaum, von dem schon der alte Fritz gehört hatte.
Sie wusste, dass Volkers Vater ein ganzes Firmenimperium leitete. Dass die Familie ein Gut am Chiemsee besaß und Volker der einzige Sohn war. Keine Partie also für ein Mädchen wie sie. Vater schon kurz nach ihrer Geburt gestorben, Mutter Schneiderin, lebte jetzt bei ihrer ebenfalls verwitweten Schwester in Potsdam. Nein, keine Chance, den Clooney-Verschnitt für sich zu gewinnen!
„Träum nicht“, mahnte Kerstin. „Sag mir lieber, was ich zu der Party anziehen soll.“
„Welche Party?“
„Himmel, davon red ich doch schon die ganze Zeit! Volker hat sein Examen bestanden. Natürlich erst beim zweiten Versuch. Aber er konnte sich’s ja leisten.“ Wieder war diese bissige Ironie in Kerstins Stimme, die Melanie weh tat.
„Warum gehst du zu der Party eines Mannes, den du nicht ausstehen kannst?“
„Och, ich kann Volker ganz gut leiden. Außerdem ist er Tims bester Freund. Ich mag nur nicht dran denken, dass er mit dir anbandelt – und dich unglücklich macht.“
„Was hältst du davon, wenn ich das selbst entscheide?“
„Was?“
Melanie schlug die Augen zum Himmel. „Wer mich unglücklich macht und warum.“
Die Freundin sah sie stirnrunzelnd an. Es schien Melanie wirklich erwischt zu haben! Wenn das nur nicht in einer Katastrophe endete! „Also, was soll ich anziehen?“, fragte sie ablenkend.
„Wo findet die Fete denn statt?“
„Auf dem Gut.“
„Also zünftig, oder?“
Kerstin seufzte. „Wenn ich das wüsste! Ich denke fast, es wird so was wie ein Frühlingsfest werden. Tim sagt, die haben einen tollen Park, der reicht bis zum Chiemsee runter.“
„Du warst auch noch nie da?“
„Wo denkst du hin? Wir treffen uns doch meistens hier in München. Volkers Studentenbude ist ja schon riesig, da können wir zwei unsere Wohnungen ganz leicht drin unterbringen.“
„Trotzdem sind Tim und er wirklich gute Freunde, oder?“
„Ja, das stimmt.“
„Na also! Dann kann er gar nicht so ein Ekel sein.“
Kerstin zuckte mit den Schultern. „Dir ist nicht zu helfen“, murmelte sie, dann konzentrierte sie sich darauf, den Inhalt des Kleiderschrank von oben nach unten zu wühlen, um schließlich zu der Erkenntnis zu gelangen: „Ich hab nichts anzuziehen!“
„Dann nimm mein kleines Schwarzes. Das passt immer.“
„Aber es steht mir nicht! Dann seh ich mit meinen schwarzen Haaren aus wie Teufels Großmutter!“
„Du spinnst!“, lachte Melanie.
Es dauerte noch den ganzen Nachmittag, ehe die Freundinnen endlich zu einem Resultat kamen: Kerstin würde einen kirschroten Rock anziehen, dazu eine schwarze Chiffonbluse aus Melanies Beständen.
„Dazu kaufst du dir ein paar schwarze Ballerinas – perfekt für die Gartenparty.“
„Du meinst wirklich …“
„Sicher. Und jetzt stell dich nicht an, als wärst du bei der Queen eingeladen. Probier lieber mal den Rock an, ob er nicht zu kurz ist. Das säh nämlich nicht gut aus. Und wäre gar nicht vornehm.“ Sie grinste.
„Adel ist Adel“, lachte Kerstin. „Ich werde mich anpassen müssen – ob bei der Queen oder bei Grafens. Aber ehrlich, ein bisschen mulmig ist mir schon zumute.“
„Ach was, Tim ist doch bei dir.“
„Ja, der sieht das ganz locker. Männer!“
„Hallo, redet ihr gerade von mir?“ Unbemerkt von den beiden Freundinnen war Tim hereingekommen. Stirnrunzelnd sah er Kerstin an. „Was hast du denn vor?“
„Gefällt’s dir nicht?“ Unsicher sah sie ihn an.
„Doch. Siehst toll aus. Nur …“
„Das ist für die Party bei Sternburgs gedacht.“
„Perfekt.“ Er grinste. „Besonders das Oberteil.“ Da die Bluse ja noch bei Melanie war, hatte Kerstin nur einen kleinen BH an.
„Ich sag’s ja – Männer!“ Sie schob ihn aus den kleinen Zimmer. „Raus. Du bist einfach nicht mit dem nötigen Ernst bei der Sache.“
„Ich nehme diese Einladung sogar sehr ernst.“ Tim griff in die Jacketttasche und zog einen hellen Büttenumschlag hervor. „Hier, für dich, Melanie.“
„Für mich?“
„Nimm schon, es ist kein Gift dran.“
„Was soll ich denn mit einer Einladung?“ Fassungslos sah sie auf die Karte.
„Na was wohl – hingehen.“
„Aber …“
„Volker feiert sein bestandenes Examen mit einer Party. Das ist doch was ganz Normales. Dass er nun mal auf einem Gutshof groß geworden ist … dafür kann er doch nichts.“ Tim legte einen Arm um Kerstin, den anderen um Melanie. „Ich jedenfalls freu mich drauf, mit euch zwei Hübschen dahin gehen zu können.“
„Ich hab nichts anzuziehen!“
„Das war doch mein Spruch“, lachte Kerstin, die sich freute, dass die Freundin mitkommen konnte.
„Ach was, das ist doch sowieso eine irre Idee! Nein, nein, ich komm nicht mit. Was denkt sich dieser Volker? Dass er nur mit dem Finger schnipsen muss und alle Leute springen? Nicht mit mir!“ Vehement schüttelte Melanie den Kopf.
„Nun sei nicht albern! Er ist einfach froh, dass er die Prüfung endlich geschafft hat. Und er will mit den Leuten, die er mag, feiern. Daran ist nun wirklich nichts Verwerfliches.“ Tim fühlte sich bemüßigt, den Freund in Schutz zu nehmen.
„Ach was – es ist der zweite oder gar dritte Versuch? Hätte ich mir denken können!“ Voller Ironie war Melanies Stimme.
„Sei doch nicht zickig!“ Jetzt wurde Tim echt sauer. „Niemand zwingt dich zum Mitkommen. Sag einfach ab, dann ist die Sache gegessen.“
„Kommt ja gar nicht in Frage!“ Kerstin schüttelte den Kopf. „Du sagst zu – keine Widerrede. Sonst kündige ich dir die Freundschaft. Und deine schwarze Bluse ziehst du natürlich an. Ich finde schon was anderes.“
„Ach was. Ich kann auch das blaue Seidenkleid anziehen …“
Na also, dachte Tim. Wenn sie schon überlegt, was sie anziehen soll, kommt sie auch mit. Volker hätte mir auch die Freundschaft gekündigt, wenn ich Melanie nicht mitgeschleppt hätte.
Die beiden Freunde hatten eine ziemlich heftige offene Aussprache gehabt, in der Tim deutlich gemacht hatte, dass er keinesfalls dulden würde, dass Volker mit Melanie nur spielte.
„Ich hab’s dir ja schon mal gesagt: Tu ihr nicht weh, sonst gibt’s ernsthaften Zoff.“
„Schon klar. Ich tu ihr ja nichts, ich lade sie nur ganz harmlos zu einer Party ein.“
„Du, die Zeiten, da sich ein Saulus zum Paulus wandelte, sind vorbei.“
„Was du nicht alles weißt …“ Volker zog es vor, das Thema zu wechseln. Irgendwie kam er beim Thema Melanie immer ins Schwitzen. Sie war so anders als alle anderen Frauen, die er kannte. Der Teufel mochte wissen, warum sie ihm nicht aus dem Kopf ging – und er sie unbedingt wieder sehen musste. Die Party war eine gute Gelegenheit, ihr näher zu kommen.
Melanie und Kerstin diskutierten noch eine ganze Weile, was wer anziehen könnte und wen man wohl treffen würde. Tim hörte amüsiert zu. Er, der jeden Tag mit Berühmtheiten – oder solchen, die sich dafür hielten – zu tun hatte, sah alles viel relaxter.
„Ich hab Hunger“, verkündete er nach einer Weile.
„Shit, ich hab vergessen, einzukaufen“, musste Kerstin zugeben.
„Eisschranktechnisch sieht es auch mies aus“, erklärte Melanie nach einem kontrollierenden Blick. „Ein paar Tomaten sind da und ein Glas Gurken.“
„Ich bin nicht schwanger.“ Tim stand auf. „Also Pizzaservice. Einverstanden?“
„Was bleibt uns übrig?“ Kerstin grinste. „Ich krieg aber nur Salat, sonst passe ich nicht in Melanies Bluse!“
+ + +
Nebelschleier lagen noch über dem Chiemsee, als Oliver von Sternburg zum Bootssteg hinunter ging. Ein paar Mal sah sich der Graf um, ehe er das kleine Motorboot startklar machte. Aber niemand war zu sehen, auf dem Gut schienen noch alle zu schlafen.
Das Boot war noch keine zwanzig Meter vom Ufer entfernt, als Sebastian Kurts in gestrecktem Galopp den schmalen Wiesenweg entlang geritten kam. Der Gutsverwalter machte jeden Morgen einen Kontrollritt über den Besitz, das war Vergnügen und Pflicht gleichermaßen.
Jetzt kniff er die Augen zusammen, doch als er Graf Oliver erkannte, ritt er beruhigt weiter. Wenn sich jemand von der Familie eins der drei Boote nahm, war das in Ordnung.
Auch Oliver hatte den Reiter bemerkt. „Verdammt, das war nicht nötig“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Aber dann zuckte er nur mit den Schultern. Wer mochte es ihm verwehren, schon früh am Morgen eine kleine Ausfahrt zu machen?
Sein Ziel war eine kleine Bucht auf der Insel Herrenchiemsee. Noch schien auch hier alles zu schlafen. Von den unzähligen Touristen, die Jahr für Jahr herkamen, um den Prachtbau Ludwig II. zu besichtigen, war noch niemand unterwegs, und auch die Angestellten, die dafür sorgten, dass es den zahlenden Gästen an nichts fehlte, war keiner zu sehen.
Oliver lenkte das Boot zu der Bucht am östlichen Ufer und stellte den Motor ab. Angestrengt wartete er.
Fast eine halbe Stunde verging. Kälte kroch ihm in die Knochen, daran vermochte auch die wattierte Jacke nichts zu ändern. Er verfluchte seinen Geschäftspartner, der mal wieder nicht pünktlich war.
Endlich hörte er den Ruf eines Käuzchens – das vereinbarte Zeichen. Und schon wenig später kam ein kleines Segelboot heran.
„Na endlich!“ Oliver nahm eine Papprolle aus dem Rucksack, der zu seinen Füßen lag.
„Ich konnte nicht früher weg. Sorry.“
„Schon gut. Hast du alles dabei?“
„Du hoffentlich auch. Lass mal sehen.“
„Nichts da. Erst krieg ich das Geld. Bar, wie ausgemacht. Zweihundertfünfzigtausend.“
„Ja, sicher. Aber ich muss die Unterlagen prüfen.“
Widerstrebend reichte ihm Oliver die Rolle. Der Mann, etwa vierzig, aber schon mit schlohweißem Haar, entnahm ihr einige Papiere und Zeichnungen. Akribisch schien er Zahlenreihen zu addieren und die Zeichnungen zu kontrollieren.
Endlich rollte er alles wieder zusammen. „Scheint o.k. zu sein.“ Er nahm eine dunkelblaue Segeltuchtasche, warf sie ins Motorboot.
„Nachzählen werd ich nicht“, meinte Oliver spöttisch grinsend. „Auf mich kann man sich verlassen, ich denke, auf dich auch.“
„Meinen Auftraggebern ist daran gelegen, dass alles unter größter Geheimhaltung vonstatten geht. Natürlich ist die Summe komplett. Bis nächste Woche. Und bis dahin – keinerlei Kontakte.“
„Schon gut.“ Oliver von Sternburg hob kurz die Hand, dann verstaute er die Tasche, ließ er den Motor an und fuhr auf einem Umweg zurück zum Bootshaus. Inzwischen hatte sich der Nebel gelichtet, die Sonne kam durch die Wolken und malte kleine goldene Punkte aufs Wasser.
Ungesehen kam Oliver aufs Gut zurück, doch noch bevor er sich zu seinen Räumen begab, ging er in den Pferdestall. In einer Ecke, von alten Decken halb verborgen, stand eine ehemalige Futterkiste. Hierin versteckte er die Tasche, verschloss die Kiste – und schlenderte pfeifend zum Haus.
Gräfin Nora saß schon im Wintergarten und frühstückte.
„Hallo, schon wach?“ Überrascht sah sie ihren Schwager an. „Was möchtest du – Tee oder Kaffee?“
„Gern Kaffee. Und Eier mit Speck, bitte.“ Er nickte dem Hausmädchen, das an der Tür stand, zu. Dann wandte er sich wieder an Nora. „Wo ist denn Joachim?“
„Schon zum Flughafen gefahren. Er hat heute geschäftlich in Marseille zu tun.“
„Immer beschäftigt, mein Bruder. Warum delegiert er nicht ein bisschen mehr? Er sollte sich schonen.“
„Ach was, Joachim ist topfit. Und manchmal muss der Chef eben selbst nach dem Rechten sehen.” Sie verkniff sich die Bemerkung, dass nicht jeder so sorglos in den Tag hineinleben konnte wie Oliver. Er bekam jedes halbe Jahr seinen Gewinnanteil – und krümmte keinen Finger dafür. Aber das waren Streitpunkte innerhalb der Familie, an die Nora nicht mehr rühren mochte. Es führte ja doch zu nichts. Sie war froh, dass Oliver nicht allzu oft zum Gut heraus kam. Und wenn doch, dann war es nervschonender, sich auf keine Diskussion einzulassen.
Entspannt frühstückten sie zusammen, dann fuhr Nora von Sternburg zu einer Bekannten, um mit ihr eine Benefizveranstaltung zu organisieren. Dass ihr Mann zur gleichen Zeit in Marseille vor Aufregung fast einen Herzinfarkt bekam, ahnte sie nicht.
„Was sagen Sie – Industriespionage? Aber wer kann denn an die Unterlagen? Die lagern hier bei Ihnen im Safe. Behaupten Sie wenigstens.“ Nervös ging er im Büro seines Geschäftsführers auf und ab.
„Da liegen sie auch noch. Unangetastet. Die undichte Stelle muss woanders sein.“
„Aber wo? Glauben Sie, dass es in der Planungsabteilung eine undichte Stelle gibt?“
„Das kann ich mir kaum vorstellen... aber wer kann schon für einen anderen Menschen die Hand ins Feuer legen?“ Der Franzose strich sich übers Haar. „Ich hab schon überlegt, ob wir die Polizei einschalten sollen, aber... das macht zu viel Wirbel.“
„Nein, nein, keine Polizei. Bei Industriespionage bringt das gar nichts.“ Joachim von Sternburg zögerte, dann tippte er eine Nummer in sein Handy. „Ich brauche Sie in Marseille“, sagte er nur. Und dann: „Gut, ich erwarte Ihre Ankunft. Später dann mehr.“ Er wandte sich wieder an seinen Angestellten. „Das ist einer der besten Privatdetektive Europas. Er kommt noch heute her. Bis dahin sollten wir alle Papiere nochmals durchgehen. Und uns im Werk umschauen.“
„Ganz wie Sie wollen. Aber seien Sie versichert: Bevor ich Sie alarmiert habe, bin ich sämtliche Möglichkeiten durchgegangen. Ich kann mir nicht erklären, wo die undichte Stelle ist. Fakt ist nur: Unsere neuen Konstruktionspapiere sind an die Konkurrenz verraten.“
„Und ein fast irreparabler Schaden entstanden.“ Joachim von Sternburg biss sich auf die Lippen. Das war ein Verlust, den auch ein so großer Konzern wie seiner nur schwer verkraften konnte. Man konnte nur hoffen, dass sich daraus keine Konsequenzen für den französischen Standort des Unternehmens ergaben.
Am frühen Abend traf der Privatdetektiv ein. Ein unscheinbar wirkender Mann. Groß, schlank, mit wachen graugrünen Augen. „Die Papiere sind immer hier gewesen?“, erkundigte er sich.
„Ja. Und ich kann versichern, dass sie die Konstruktionsabteilung nicht verlassen haben.“
„Nur... mir haben Sie einiges gefaxt“, warf Graf Joachim ein. „Aber auf mein privates Faxgerät. Das steht in meinem Arbeitszimmer am Chiemsee.“
„Und dorthin hat niemand Zutritt?“
Der Graf zögerte. „Na ja, meine Familie schon. Aber... meine Frau und mein Sohn sind ja wohl über jeden Zweifel erhaben. Außerdem... ich kann mich nicht erinnern, mit ihnen über diese Forschungen gesprochen zu haben.“
Die beiden anderen Herren schwiegen. Aber Jan Vermehren, der Detektiv, hatte einen Ansatz für seine Untersuchungen. Auch, wenn es dem Industriellen nicht gefallen sollte.
„Wenn Sie mich nicht mehr brauchen – ich möchte noch heute nach Hause fliegen. Übermorgen gibt meine Frau ihr traditionelles Frühlingsfest. Außerdem hat unsere Sohn endlich das Staatsexamen in der Tasche. Also doppelter Grund zum Feiern.“
„Gratulation. Lassen Sie sich nicht aufhalten. Ich sehe mich hier noch um, Sie hören dann von mir.“
In Begleitung des Geschäftsführers kontrollierte der Detektiv die Firmenräume, anschließend gingen die beiden Herren in eins der besten Fischrestaurants der Stadt und genossen die dort gereichten Spezialitäten. Joachim von Sternburg flog unterdessen heim, nahm sich aber vor, niemandem von den Ärgernissen zu erzählen. Alle freuten sich auf die Party, da wollte er vor allem seiner Frau und Volker die Stimmung nicht verderben.
+ + +
„Das ist ja wie im Märchen! Wahnsinn!“
„Nun krieg dich mal wieder ein. Das sind nur ein paar Dutzend Pechfackeln, drei Bands und jede Menge Lohnkellner.“
„Kerstin, du bist unmöglich!“ Melanie schüttelte den Kopf. „Bist du denn gar nicht beeindruckt? So ein tolles Haus... und dieser Park – dass es das heute noch in Privatbesitz gibt...“
„Alter Adel macht’s möglich“, warf Tim ein. „Aber jetzt kommt, Volker wartet sicher schon auf uns.“
Die drei waren mit Tims Wagen gekommen, hatten das nicht gerade repräsentable Gefährt allerdings auf dem hintersten Teil des Parkplatzes abgestellt. Jetzt gingen sie über den weißen Kiesweg zum Eingang des Gutshauses hoch.
„Das ist ja fast schon ein Landschloss“, meinte Melanie.
„Ja. Aber drinnen ist es sehr gemütlich. Ich hab schon mal vorgeschlagen, da einen Film zu drehen. Aber... die brauchen das Geld wohl nicht.“ Tim grinste. „Dabei wäre es die ideale Kulisse für eine Soap. Schlossherrin verliebt sich in armen Reitlehrer. Oder so ähnlich.“
Kerstin lachte. „Und du wolltest dann den Reitlehrer spielen, ja?“
„Unsinn. Ich bin und bleibe Regieassistent. Du brauchst keine Angst um mich zu haben, Süße.“
„Ich und Angst um ich... Pah!“
„Eifersucht, dein Name ist Kerstin.“
„Hört jetzt auf damit. Wir sind gleich da...“ Melanies Herz klopfte wie verrückt, als sie die letzten Stufen zur Terrasse hoch ging. Der Haupteingang war verschlossen, man wurde durch die Fackeln aber gleich auf die westlich gelegene Terrasse geleitet, wo die Sternburgs ihre Gäste empfingen.
„Herzlich willkommen – und amüsieren Sie sich gut“, wünschten Gräfin Nora und Graf Joachim. Volker umarmte Kerstin kurz und küsste sie auf beide Wangen. „Schön, dass ihr da seid“, sagte er. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er auch Melanie so begrüßen, doch dann reichte er ihr die Hand, zog sie aber gleich mit sich in eine etwas stillere Ecke.
„Na, dann kann ich auch endlich zum gemütlichen Teil übergehen“, lachte er. „Bisher hab ich neben meinen Eltern ausgeharrt – bis ihr gekommen seid.“ Er winkte einem Kellner. „Was mögt ihr trinken? Die Champagnerflips sind echt gut.“ Schon hielt jeder ein Glas in der Hand.
Melanie nippte nur an dem Glas. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Und dann ließen Kerstin in Tim sie auch noch allein und spurteten förmlich zur Tanzfläche rüber. Das war eine abgekartete Sache. Tim war ein ausgewiesener Tanzmuffel. Mochte der Himmel wissen, was Volker ihm geboten hatte!
„Wollen wir auch?“ Schon nahm er ihr das Glas wieder aus der Hand, und ehe sie etwas einwenden konnte, stand sie schon mit ihm auf der improvisierten Tanzfläche. Himmel, konnte es sein, dass eine Finger glühten? Und sie selbst... ihre Füße schienen aus Blei zu sein, jedenfalls konnte sie sich kaum rühren.
Aber das schien auch gar nicht nötig, Volker hielt sie fest, sie wiegten sich nur sacht zum Takt der Musik. „Ich freu mich, dass du da bist.“
„Danke für die Einladung.“
„Das hast du schon mal gesagt.“
„Ja?“
„Ja.“
Die nächste Tanzfolge verlief schweigend. Dann kamen noch ein paar Gäste, die Volker begrüßen musste. Melanie schlenderte ein wenig durch den Park – und stand auf einmal einem hoch gewachsenen Mann gegenüber, der sie bewundern anlächelte. „Dann gibt es also doch noch Wunder“, meinte er.
„Wie meinen Sie das denn?“
„Na – ich treffe hier eine bezaubernde Frau ohne Begleiter. Das ist der reinste Glücksfall. Kommen Sie mit an die Bar?“ Sacht griff er nach ihrem Arm, dirigierte sie zu der Bar, die unterhalb der Terrasse aufgebaut war und wo drei Lohnkellner damit beschäftigt waren, die Gäste mit Drinks zu versorgen.
„Ich hab Sie noch nie hier gesehen“, begann Oliver die Unterhaltung. „Sind Sie eine Freundin von Volker? Etwa eine Studienkollegin?“
„Wir kennen uns zwar von der Uni, aber ich studiere Medizin.“
„Alle Achtung!“ Oliver lächelte. „Ich bin sicher, Sie werden einmal die schönste Ärztin Deutschlands sein.“
Melanie lachte. Das zweite Glas Champagner, das sie getrunken hatte, nahm ein bisschen von ihren Hemmungen. „Mir genügte es, wenn ich mal eine durchschnittlich gute werde“, erwiderte sie. Dann legte sie den Kopf ein bisschen schräg. „Und Sie? Was hat Sie hierher gebracht?“
Oliver lachte. „Glauben Sie mir, ich bin daran ganz unschuldig. Meine Eltern sind schuld – ich bin ein Sternburg.“
„Oh!“
„Ich hoffe, dass es Sie nicht stört. – Oliver.“
„Herr Graf, ich...“
„Hören Sie auf! Das ist ja schrecklich! Herr Graf... ich komme mir vor wie ein lange verwester Urahn. Sag doch Oliver zu mir, ja? Komm, darauf trinken wir noch ein Glas.“ Und schon hielt Melanie das nächste Glas Champagner in der Hand. Diesmal aber trank sie vorsichtiger, sie wollte auf keinen Fall die Kontrolle verlieren.
Oliver seinerseits trank sein Glas aus, doch er spürte keinerlei Reaktion. Alkohol war er gewöhnt. Das Kribbeln, das ihn erfüllte, hatte andere Ursachen: Sein Jagdinstinkt war geweckt. Dieses Mädchen mit den blonden Locken, den dunkelgrauen Augen und dem natürlichen Charme... es war sicher reizvoll, sie irgendwie rumzukriegen. Dass es gelingen würde, stand für ihn fest. Wer konnte schon einem Grafen Sternburg widerstehen? So ein Adelstitel war doch hin und wieder ganz nützlich, er beeindruckte auch heutzutage noch.
Gerade, als er wieder mit Melanie tanzen wollte, stand Volker neben ihnen. „Jetzt musst du mir Melanie mal überlassen“, meinte er und zog Melanie schon zur Tanzfläche.
Im ersten Impuls wollte sie aufbegehren. Was fiel ihm ein, einfach ihre Unterhaltung mit Oliver zu stören? Und gefragt werden wollte sie eigentlich auch, ob sie überhaupt Lust hatte zu tanzen.
Natürlich hatte sie! Vor allem mit Volker! Fest, aber sanft lag sein Arm um ihre Taille. Er sagte nichts, aber sie spürte seinen Herzschlag.
Zwei Tänze. Drei... er ließ sie nicht los. Melanie begann sich ein wenig unbehaglich zu fühlen. „Was macht eigentlich Ihr Bein?“
„Dein Bein“, korrigierte er. „Wir duzen uns, schon vergessen?“
„Ach ja...“ Sie sah ihm in die Augen. Verflixt, dieser Blick ging einem durch und durch! Zum Verlieben, seine dunklen Augen! Aber das ging ja nun gar nicht! Ein Graf! Pah, schon als Kind hatte sie solche Märchen nicht gemocht, in denen ein Aschenputtel zur Schlossherrin wurde.
„Mein Bein ist ganz in Ordnung. Oder nein... ich glaube, ich sollte mich ein bisschen ausruhen. Manchmal tut mir das Knie weh.“ Er schlug auf das rechte Bein. „Kommst du mit? Drüben ist es ein bisschen ruhiger.“
Stirnrunzelnd sah Melanie ihn an. „Dein Knie tut weh? Du hast dir das rechte Bein knapp oberhalb des Sprunggelenks gebrochen. Schon vergessen?“
„Ja, trotzdem...“
Sie sagte nichts mehr, die Ausrede war einfach schief gegangen. Aber sie folgte ihm ein paar Meter tiefer in den Park hinein. Hier war es fast dunkel, der Fackelschein erreichte diesen Teil kaum noch. Allerdings bemerkte sie links vom Weg einen kleinen Pavillon, dessen Tür von zwei schmiedeeisernen Laternen flankiert wurde. Rosensträucher, die jetzt allerdings noch nicht blühten, aber schon junges Grün zeigten, standen rings ums Haus.
„Was ist das?“
„Der Rosenpavillon.“ Volker lächelte. „Du kannst es auch das Liebesnest der Familie nennen. Früher traf man sich hier zum romantischen Stelldichein.“
„Früher. Aha.“
Er lachte leise, zog sie fester an sich. „Na ja, heute hin und wieder auch noch.“
„Du auch?“ Sie bog den Kopf in den Nacken, versuchte ihm in die Augen zu sehen.
Volker hielt ihrem Blick stand. „Ich war noch nie mit einer Frau allein hier.“
„Ach ja.“ Ein skeptischer Blick traf ihn.
„Ehrlich. Du kannst mir glauben.“
Melanie zog die Seidenstola fester um die Schultern. „So sehr interessiert es mich nun auch nicht.“
„Wirklich nicht?“ Ganz dicht war er vor ihr, seine Hände glitten spielerisch durch ihr Haar. Und dann küsste er sie. Sacht. Ganz flüchtig nur. Und doch veränderte dieser kleine Kuss alles...
„Glaubst du mir?“
„Ja.“ Melanie wandte der Kopf zur Seite und bemerkte einen Schatten, der am Fenster vorüber glitt. „Da ist jemand!!“
„Ach was! Das war vielleicht ein Ast, der sich im Wind bewegt hat.“
Aber die romantische Stimmung war zerstört. „Lass uns zurückgehen“, bat Melanie.
„Wenn du willst...“ Normalerweise hätte er nicht so schnell klein beigeben. Normalerweise waren die Frauen, mit denen er flirtete, aber auch offener, nicht so scheu. Aber gerade das reizte ihn ja an Melanie.
Die Party war in vollem Gang. Alle unterhielten sich blendend, und auch Graf Oliver, der mal hier, mal dort auftauchte, schien sich gut zu unterhalten. Immer wieder mal holte er sich einen Drink, doch niemandem fiel auf, dass er die Gläser nicht austrank. Als er kurz nach Mitternacht nochmals zum Büffet ging, wo gerade eine heiße scharfe Suppe ausgegeben wurde, trat Nora zu ihm.
„Ein gelungenes Fest, nicht wahr?“
„Natürlich. Das hab ich gar nicht anders erwartet. Du bist eine exzellente Gastgeberin, Nora.“
„Danke.“
„Hallo, da seid ihr ja! Braucht ihr Getränke-Nachschub?“ Volker war bester Laune. Dass sein Knie im Moment wieder mal ganz furchtbar schmerzte, ignorierte er. Das war nichts von Bedeutung. Wahrscheinlich hatte er das Bein einfach überlastet.
„Wir sind versorgt, danke.“ Oliver legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. „Diese Medizinstudentin... ein süßer Käfer. Halt sie dir warm.“
„Bin dabei!“ Volker lachte.
„Von wem redet ihr?“, wollte Nora von Sternburg wissen.
„Von Volkers neuester Eroberung.“ In Olivers Stimme schwang leichte Ironie mit, doch das fiel niemandem auf. Nora wurde durch zwei Freundinnen abgelenkt, und Volker entdeckte gerade Tim und die beiden Mädchen und beeilte sich, zu ihnen zu kommen.
Oliver wollte ins Haus, doch auf halbem Weg wurde er von einer extrem schlanken Rothaarigen angehalten, die ihm um den Hals fiel. „Dass du mal wieder hier bist!“ Sie küsste ihn ungeniert auf den Mund. „Und hast dich noch nicht bei mir gemeldet. Das sollte ich dir übel nehmen!“
„Vera...“
„Du erinnerst dich zumindest noch an meinen Namen!“
„Ich erinnere mich noch an viel mehr“, grinste Oliver anzüglich.
„Wie erfreulich!“ Vera, das Fotomodell mit Beinen bis zum Himmel, lachte ungeniert. „Wir hatten ja auch viel Spaß miteinander.“
Oliver konnte ihr nur zustimmen. Vor einem halben Jahr hatten sie eine zwar kurze, aber heiße Affäre gehabt. Vera war ein Vulkan. Schön, aufregend, gefährlich.
„Wo hast du gesteckt?“, erkundigte sie sich und hakte sich bei ihm unter. „Wir haben dich gesucht, Bianca und ich.“
„Ach nein! Sehnsucht?“
„Ja, aber nicht nach dir.“ Vera lehnte den Kopf an seine Schulter. „Aber du hattest so schöne Dinge... die haben uns gefehlt.“
„Tja, manchmal muss man verzichten. Oder abtauchen.“ Oliver lachte leise. „Ich hab’s vorgezogen, für eine Weile zu Freunden nach Australien zu verschwinden. Du verstehst...“
„Klar doch. Aber jetzt bleibst du doch, oder? Bianca freut sich bestimmt auch, dich wiederzusehen.“
Oliver konnte sich nur noch vage an Bianca erinnern. Sie war kleiner gewesen als Vera. Und blond. Und ziemlich scharf. Ohne Hemmungen. Ja, jetzt fielen ihm ein paar Nächte zu dritt wieder ein!
„Mal sehen, wann ich in die Stadt komme. Ich melde mich auf jeden Fall bei dir. Und jetzt entschuldige mich, ja? Wir sehen uns noch...“ Kurz hob er die Hand und verschwand im Haus.
Niemand bemerkte, dass er kurz in seine eigenen Räume ging, dann durch einen Nebenausgang wieder nach draußen hastete.
Melanie hatte sich ein wenig vom Partytrubel zurückgezogen. Sie sah Kerstin und Tim zu, die selbstvergessen tanzten. Dann glitt ihr Blick weiter zu Volker, der sich mit ein paar Studienfreunden unterhielt. Jetzt kam sein Vater hinzu, während Gräfin Nora zu einem Tisch ging, an dem einige ältere Herrschaften saßen und sich lebhaft unterhielten.
Wie in einem Film, ging es Melanie durch den Kopf. Ich sitze als Zuschauerin da und erlebe für ein paar Stunden eine andere Welt. Kurz dachte sie an ihren Job in der Klinik. An das Leid, das sie dort erlebte – aber auch an die glücklichen Momente, wenn es gelang, ein Leben zu retten oder auch nur einem Kranken für ein paar Minuten ein wenig Freude zu schenken. Welten lagen zwischen dem Hier und dem Leben dort.
Sie ging noch ein wenig tiefer in den Park hinein, bis sie zu einem kleinen See kam. Die Wasseroberfläche lag ganz still und ruhig, nur in der äußersten linken Ecke spiegelte sich leicht der Mond. Eine schmiedeeiserne Bank, umrahmt von einer niedrigen Buchsbaumhecke, lud zum Ausruhen ein.
„Hier bist du!“ Auf einmal war Volker neben ihr. „Ich hab dich gesucht.“
„Ich... ich wollte mal ein wenig weg von dem Trubel.“ Melanie sah kurz auf. „Hier ist es wunderschön. Idyllisch. Fast schon kitschig.“
„Das war der Lieblingsplatz meines Großvaters.“ Volker setzte sich neben sie. „Hier hat er mir immer Geschichten erzählt – von unseren Vorfahren, von seinen Jagdabenteuern. Aber auch Märchen und Sagen. Er war ein ganz besonderer Mensch.“ Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort: „Eigentlich hat jeder von uns seinen Lieblingsplatz hier im Park. Mutter mag den Rosenpavillon, Vater die Pferdeställe. Oliver... nein, von ihm weiß ich keinen.“
„Und du? Wo bist du am liebsten?“
„Hier.“ Volker sah sie an. „Vor allem jetzt.“ Ganz leicht beugte er sich vor.
Melanie schloss die Augen. Jetzt... jetzt passiert es! Das konnte sie gerade noch denken, dann explodierten tausend kleine Sterne in ihrem Kopf. Volker küsste sie!
Blöd, dass ihr in diesem Moment eine Szene aus »Pretty Woman« durch den Kopf schoss. Sie sah Julia Roberts neben Richard Gere im Bett liegen. Sacht beugte sie sich über ihn, küsste ihn und flüsterte: Ich liebe dich. – Und was tat er? Er ignorierte dieses Geständnis.
Andere Szene, gleiche Voraussetzungen: Armes Mädchen verliebt sich in Märchenprinzen. Unvorstellbar. Und nicht zu realisieren. Höchstens im Film. Aber das waren ja auch nur Zelloloidträume. Die hatten mit der Wirklichkeit ganz und gar nichts zu tun.
Fröstelnd zog sie die Schultern hoch.
„Dir ist kalt.“ Volker zog fürsorglich sein Jackett aus und legte es ihr um.
„Danke...“
Ein weiterer langer Blick – mit der Folge, dass Volker sie erneut küsste. Diesmal nicht sanft, sondern voller Leidenschaft. Sie hob die Arme, schob sie um seinen Nacken...
„Feuer!“ Der Schrei zerriss den romantischen Moment. Er übertönte auch das Stimmengewirr drüben auf der Terrasse. Die Musik brach ab, Hektik machte sich breit.
Melanie und Volker sprangen gleichzeitig auf und rannten zum Haus. Die Terrasse leerte sich rasch, einige der Frauen standen am Seitenrand und sahen hinüber zu den Stallungen, aus denen Rauch drang – und ein noch vager Feuerschein.
„Die Pferde!“ Volker flüsterte es nur. Und dann rannte er los, hinüber zu den Gebäuden, in denen die wertvollen Zuchtstuten und drei Hengste untergebracht waren.
Die Gutsangestellten und einige beherzte Männer kämpften mit primitiven Mitteln gegen Rauch und Feuer an. Volker sah, dass sein Vater verzweifelt versuchte, das Stalltor zu öffnen. Einige der Männer hatten eine Kette gebildet und reichten sich Wassereimer zu.
„Verdammt, es geht einfach nicht!“ Joachim von Sternburg sah schrecklich aus. Das Gesicht vom Ruß geschwärzt, das Jackett zerrissen. Sein Blick war fast der eines Wahnsinnigen.
„Lass mich!“ Volker schob ihn zu Seite.
„Das geht nicht. Es klemmt. Kurts holt eine Axt.“ Schluchzen schwang in der Stimme des Grafen mit.
Doch Volker schien gar nicht zuzuhören. Verbissen rüttelte er an der Tür – bis sie endlich aufschwang. Gleichzeitig schoss eine Feuersäule heraus, blendete die Männer.
„Weg hier! Die Feuerwehr muss gleich da sein!“ Der Verwalter versuchte Volker fortzuziehen, doch der schob ihn zur Seite – und stürmte in den Stall. Pferdewiehern. Ängstliches Schnauben empfing ihn.
Wie blind tastete er nach den Riegeln, öffnete eine Box nach der anderen. Irgendwann bemerkte er auch Norbert, den jungen Stallknecht, der ihm half, die verängstigten Tiere nach draußen zu führen.
Und dann, endlich, war die Feuerwehr da. Noch die letzte Stute, Gräfin Noras Lieblingstier... der Schimmel stand ganz hinten.
„Das passt nimmer!“, schrie Norbert, doch Volker ließ sich nicht beirren – und führte schließlich auch die Stute ins Freie. Das Tier ließ sich kaum bändigen, Angst und Schmerzen, denn einige Hautstellen waren schon angesengt, machten es unberechenbar. Aber Volker ließ es erst los, als sie im Hof waren.
Die Stute galoppierte wie von tausend Teufeln gejagt davon – und Volker brach zusammen.
O Himmel, das geht nicht gut! Warum kommt denn die Feuerwehr nicht? Volker, nein! Komm zurück! Sie hätte es schreien mögen, aber kein Laut kam über Melanies Lippen. Verzweifelt versuchte auch sie sich an den Löscharbeiten zu beteiligen, doch rasch wurde klar, dass es sinnlos war.
Norbert, der Stallbursche, hatte Brandblasen an den Händen und krümmte sich vor Schmerzen.
„Komm, ich helfe dir.“ Auf einmal handelte sie ganz nüchtern. „Gibt es einen Erste-Hilfe-Kasten?“, fragte sie eines der Hausmädchen.
„Ja, klar...“
„Holen Sie ihn.“
„Die Hände müssen ins Wasser“, rief irgendjemand.
Melanie schüttelte den Kopf. „Sicher gibt es eine Brandsalbe im Erste-Hilfe-Kasten“, sagte sie und hielt Norberts Arm fest. „Das hilft am effektivsten. Übrigens – ich heiße Melanie und bin Krankenschwester.“
„Prima.“ Das klang gepresst, man sah deutlich, dass der etwa Siebzehnjährige große Schmerzen hatte. Aber dann auf einmal riss er sich los. „Volker! Scheiße!“
Melanie zuckte zusammen. Für einen Wimpernschlag war sie wie paralysiert, dann rannte sie auf den Ohnmächtigen zu. Volker lag seltsam verrenkt auf dem steinigen Boden.
„Er muss ins Haus!“, rief einer der Gäste.
„Nein, nicht bewegen!“ Melanie versuchte den Ohnmächtigen abzutasten. Nein, irgendwelche Wirbel schienen nicht verletzt zu sein. Nur sein Bein war verletzt. Erst das linke, jetzt das rechte, schoss es ihr durch den Kopf.
Aber dann waren schon ein Notarzt und zwei Sanitäter zur Stelle und kümmerten sich um die Verletzten, aber auch um Gräfin Nora, die einen Schock erlitten hatte.
Erst als alles unter Kontrolle war, als die Gäste fort und auch die Feuerwehr abgerückt war, fiel es Joachim von Sternburg auf: Sein Bruder Oliver war verschwunden!
+ + +
„Stimmt es, dass Sie mit den Sternburgs befreundet sind? Ich hab in der Zeitung von der Unglücksparty gelesen.“ Jessica Reimers, Hauptdarstellerin des Fernsehfilms, bei dem Tim als Regieassistent fungierte, sah den blonden Mann neugierig an.
„Ich kenne Volker von Sternburg“, erwiderte Tim zurückhaltend.
„Erzählen Sie doch mal... was ist denn genau passiert?“
Tim seufzte unterdrückt auf. Die Frage war ihm in den letzten drei Tagen schon unzählige Male gestellt worden. „Ich weiß auch nicht mehr als das, was in der Zeitung steht“, erwiderte er. „Die Party war auf ihrem Höhepunkt, als es in den Stallungen zu brennen anfing. Alle haben beim Löschen geholfen, so gut es ging. So konnten alle Tiere gerettet werden. Und ernsthaft verletzt wurde zum Glück auch niemand“, fügte er hinzu. Dass Volker immer noch in der Klinik lag und sich diversen Untersuchungen unterziehen musste, ging die neugierige Meute hier am Set nun wirklich nichts an.
„Du hast noch nicht gesagt, woher du die Sternburgs kennst.“
Tim zuckte lässig mit den Schultern. „Volker und ich sind seit Jahren befreundet.“
„Interessant.“
„Aber Jessylein, Namen sind doch Schall und Rauch.“ Erhard Bergheimer, gute sechzig und Dauergast in fast jeder Serie, grinste anzüglich.
„Was du wieder denkst.“
„Mit Sicherheit das Richtige.“
„Ach, lass mich doch in Ruhe! Ich bin eben an meinen Mitmenschen interessiert. Du hast ja nur noch dein Schachspiel im Kopf.“
„Nicht nur. Zum Glück.“ Erhard zwinkerte Tim zu, dann ging er in seine Garderobe.
Jessica jedoch versuchte noch mehr Infos zu kriegen. Zum Glück erschien der Regisseur, der mit seinem Assi einige Einstellungen für den kommenden Tag besprechen wollte. „Würdest du mir einen Gefallen tun?“, bat er abschließend.
„Wenn ich kann – klar.“
„Du wohnst in Gauting, ja?“
„Ja.“ Tim nickte. Seit anderthalb Jahren hatte er in dem Vorort Münchens eine Dachwohnung. Nicht allzu groß, doch so geräumig, dass Kerstin oft zu Gast sein konnte.
„Dann sei doch so gut und hol morgen früh die Ravenstein ab. Sie logiert bei Freunden, die in Gauting wohnen.“
„Gloria Ravenstein?“ Tim war überrascht. Dass die weit über Deutschlands Grenzen bekannte Schauspielerin engagiert worden war, hatte er gar nicht gewusst. „Sie spielt – was?“
„Gar nichts. Wenigstens nicht in unserer Produktion. Aber wir kennen uns seit Jahren und sie ist an einer Rolle in meiner Dürrenmatt-Inszenierung interessiert.“
„Der Besuch einer alten Dame“, grinste Tim. Und fügte ernster hinzu: „Selbstverständlich hole ich Frau Ravenstein ab.“
„Sie will eine halbe Stunde zusehen. Na ja, und dann... ich werd mit ihr im Bayerischen Hof zu Abend essen.“
Das Skriptgirl kam und wollte etwas von Tim. Die Routinearbeit nahm ihn ganz gefangen, bis es endlich Feierabend war. Doch bis dahin hatten ihn noch einige auf seine Bekanntschaft mit den Sternburgs angesprochen.
„Auf einmal war ich ganz wichtig. Idiotisch.“ Tim sah Kerstin kopfschüttelnd an. „Die sind doch selbst alle mehr oder weniger prominent. Was wollen sie denn noch?“
„Sich mit dem Adel schmücken. Das ist doch in, schon vergessen?“ Kerstin grinste. „Ich find’s ja auch klasse, dass du so einen bekannten Freund hast.“
„Spinn jetzt nicht auch noch.“ Er zog sie an sich. „Mir ist nach Spaghetti carbonara.“
„So schlimm?“ Stirnrunzelnd sah sie ihn an. Spaghetti carbonara aß Tim eigentlich nur, wenn er unglücklich war oder total unter Stress stand.
„Ich mach mir Sorgen um Volker.“
„Warum?“ Kerstin löste sich aus seinem Arm.
„Er ist immer noch in der Klinik. Dabei ist die Verletzung am Bein gar nicht so gravierend.“
„Das kannst du doch gar nicht beurteilen.“
„Na ja, aber... normal ist es doch heutzutage nicht, wenn man so lange im Krankenhaus festgehalten wird.“
Kerstin lachte. „Für uns Kassenpatienten nicht. Aber Volker ist doch sicher Privatpatient. Da sieht das schon anders aus.“
„Ach, wir armen Kellerkinder!“ Tim hatte seinen Humor wiedergefunden. „Ich muss froh sein, dass du mich liebst.“ Er hielt Kerstin am Arm fest. „Du liebst mich doch?“
„Aber ja. Immer. Auch, wenn du nur ein kleiner, unbekannter Regieassistent mit Kleinstgehalt bist.“ Er bekam einen herzhaften Kuss. „Dennoch bist du mir lieber als jeder Millionär.“
„Du bist die Beste.“
„Weiß ich doch. Vor allem koche ich die besten Spaghetti. Ich weiß.“
„Ach was, vergiss die Nudeln. Wir gehen aus. Mir ist nach einem Schwabingbummel. Und hinterher auf den Großmarkt... Austern essen.“
„Jetzt spinnst du wirklich. Oder hast du im Lotto gewonnen?“
„Nichts von beidem. Aber Austern frisch vom Händler... delikat und bezahlbar.“
„Na gut. Meinetwegen. Ich hab auch einen neuen Auftrag an Land gezogen. Klingt vielversprechend für die Zukunft.“
„Na also, dann kannst du mich ja zur Not ernähren.“
„Mach ich doch. Versprochen.“ Lachend fiel sie ihm um den Hals. „Ich liebe dich“, flüsterte sie.
„Und ich liebe dich.“
Na ja, die Kneipentour musste noch ein bisschen warten. Es dauert eben, bis sich zwei Verliebte versichert haben, wie innig sie sich lieben. Mitternacht war vorbei, als sie endlich loszogen, aber in den angesagtesten Lokalen herrschte noch Hochbetrieb.
Mehrfach wurde Tim nach Volker gefragt.
„Es geht ihm schon wieder ganz gut. Er ist noch zur Beobachtung in der Klinik. Mit einer Rauchvergiftung soll man ja nicht spaßen“, lautete die Standardantwort.
„Sag mal... ist es wirklich nur wegen der Rauchvergiftung, warum man ihn so lange da behält?“ Bernd Hellwig, Medizinstudent im vorletzten Semester und locker mit Volker bekannt, war skeptisch.
„Warum sollten sie ihn sonst in der Klinik behalten?“
„Ich denke, weil er Privatpatient ist“, warf Kerstin ein.
„Könnte sein...“ Bernd wandte sich wieder seinem Drink zu. Aber während er das Thema schon wieder abhakte, ließ es Kerstin nicht los.
„Wir sollten morgen mal wieder zu Volker gehen“, meinte sie.
„Ich hab am Nachmittag noch mit ihm telefoniert. Alles in bester Ordnung. Und jetzt komm, wir gehen noch kurz im ‚Blue Velvet’ vorbei, tanzen ein bisschen ab – und holen uns den richtigen Appetit auf die Austern.“
+ + +
Die meisten Besucher hatten die Klinik bereits verlassen. Volker saß im Bett und las den neuen Bestseller, den ihm ein Freund vorbei gebracht hatte. Er war so vertieft in die spannende Story, dass er fast das Klopfen an der Tür nicht gehört hätte.
„Störe ich?“ Melanie kam ein paar Schritte näher. „Ich... ich dachte, ich seh mal nach dir.“
Das Buch flog in die Ecke und Volker setzte sich aufrecht hin. „Melanie! Komm näher!“ Er streckte die Arme nach ihr aus.
„Wie fühlst du dich?“
„Blendend. Jetzt, wo du gekommen bist...“ Er lachte. „Krieg ich keinen Kuss? Du, das soll wie Medizin sein.“
Ihre Angst, dass er nur aus einer Partylaune heraus mit ihr geflirtet haben könnte, verflog. Sacht beugte sie sich über ihn, wollte ihn auf die Wange küssen.
„Geschummelt wird nicht.“ Schnell zog er sie zu sich aufs Bett, und sein Kuss war nun wirklich nicht der eines Kranken. Und seine Hände, die versuchten, ihren Pulli hochzuschieben...
„Nicht. Wenn jemand reinkommt...“ Sie wehrte ihn verlegen ab.
Volker lachte. „Schließ doch einfach die Tür ab.“
„Kommt nicht in Frage. Das hier ist ein Krankenhaus, schon vergessen?“
„Wenn du bei mir bist, ja.“ Volker spielte mit ihrem Haar, dass sie im Nacken zusammengebunden trug. „Ich mag’s lieber, wenn du es offen trägst.“
Melanie lachte und nestelte an dem Gummiband. „Ich komme gerade von der Arbeit, da ist ein Pferdeschwanz bequemer.“
„Also von einer Klinik zur anderen.“ Volker grinste. „Ich sollte mich verlegen lassen. Dann kannst du meine Privatpflege übernehmen.“
„Hast du vergessen, dass ich nur aushilfsweise arbeite? Morgen früh sitze ich brav wieder in der Uni. Erst Ende der Woche hab ich wieder Nachtdienst.“
Volker grinste. „Den kannst du bei mir jede Nacht haben.“
Sie wurde verlegen. „Sag so was nicht...“ Dann stand sie auf und holte aus ihrer Handtasche ein Buch. „Hier, damit dir die Zeit nicht zu lang wird.“
Es war genau der Bestseller, den er eben zur Seite gelegt hatte. Hoffentlich merkte sie es nicht.
Nein, Melanie ließ sich leicht ablenken. Mit einem weiteren Kuss und Volkers Fragen nach ihrem Studium, ihrem Zuhause. „Ich möchte so gern alles von dir wissen.“
„Da gibt’s gar nicht viel zu erzählen.“
„Mich interessiert alles.“ Er nahm ihre Hände, hob sie hoch und küsste jede einzelne Fingerspitze. „Weißt du... als Tim damals kam und erzählte, dass er sich in Kerstin verliebt hätte und keine andere mehr wollte, da... da hab ich ihn heimlich ausgelacht. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass mir so was jemals passieren würde. Aber jetzt versteh ich ihn. Melanie, ich...“
„Nein, sag jetzt nichts. Lass uns ein bisschen Zeit.“ Sie stand auf, gab ihm noch einen raschen Kuss und ging zur Tür. „Ich muss los, die Besuchszeit ist schon lange vorbei. Die Stationsschwester war gar nicht begeistert, dass ich noch zu dir wollte.“
„Ich werd ihr sagen, dass du immer zu mir kommen kannst, Tag und Nacht. Melanie...“
„Ja?“
„Komm noch mal her.“
Lächelnd ging sie zum Bett zurück.
„Ich bin froh, dass es dich gibt – und dass du mich magst.“
„Ich bin auch froh.“
+ + +
„Es war definitiv Brandstiftung. Das haben die Untersuchungen zweifelsfrei ergeben.“ Joachim von Sternburg starrte angestrengt zum Fenster hinaus. „Wie konnte es dazu kommen? Wer hat das getan?“ Langsam drehte er sich um und ließ sich auf den Besucherstuhl sinken, der neben Volkers Bett stand.
Vater ist alt geworden. Mit einem Schlag. Dieses Unglück... es hat ihn wahnsinnig getroffen.
„Die Hauptsache ist erst mal, dass die Tiere alle gerettet sind“, meinte er. „Für alles weitere kommt die Versicherung auf.“
„Ja, ja, das stimmt schon. Aber... wer war dieser miese Typ? Wer hasst uns so?“ Er barg das Gesicht in den Händen. „Ich zermartere mir das Hirn – aber es fällt mir niemand ein.“
Volker streckte die Hand aus. „Nimm’s nicht so tragisch, Vater. Ich bin auch bald wieder auf dem Damm, vielleicht kann ich dir sogar ein bisschen zur Hand gehen. Wenigstens, was den Gutsbetrieb angelangt.“
„Danke, Junge.“
Stirnrunzelnd sah Volker ihn an. „Da ist noch was, ja?“ Er richtete sich im Bett auf, wobei er den Stich, der mal wieder durch sein Knie ging, geflissentlich ignorierte. „Was ist los? Red schon. Ich merke doch, dass da noch andere Probleme sind.“
Joachim von Sternburg gab sich einen Ruck. „Es sind Forschungsdaten gestohlen worden“, stieß er endlich hervor. „In unserem französischen Werk.“
„Warst du deshalb vor einigen Wochen in Marseille?“
„Nein, nein, da war noch alles in Ordnung. Glaub ich zumindest. Aber jetzt fehlen Unterlagen. Zumindest, was die Konstruktion des Prototyps betrifft. Ob noch irgendwas kopiert worden ist... keine Ahnung.“
„Aber das ist ja... Werkspionage!“
„Richtig. Ahnst du, was das für uns bedeutet? Der Schaden ist immens. Wir werden von der Konkurrenz überholt, alle Forschungsgelder waren für die Katz.“ Er barg das Gesicht in den Händen. „Wenn ich den Schuft kriege... glaub mir, ich dreh ihm den Hals rum.“
Volker musste trotz der verfahrenen Situation schmunzeln. „Das würd ich gern sehen. Aber im Ernst... hast du schon die Kripo eingeschaltet?“
Sein Vater schüttelte den Kopf. „Nein, aber Vermehren.“
„So brisant ist die Sache?“
„Aber ja! Millionen stehen auf dem Spiel“ Sein Vater erhob sich wieder und ging erregt im Zimmer auf und ab. „Jetzt kommt noch diese Brandstiftung hinzu... das lässt darauf schließen, dass man uns fertig machen will. Da sind Kriminelle am Werk. Wenn ich nur einen blassen Schimmer hätte, wer!“
„Industriespione stecken keine Stallungen an.“ Volker richtete sich auf. „Das passt nicht zusammen, Vater.“
„Das hab ich mir auch schon gesagt. Wenn wenigstens Oliver da wäre! Aber der hat sich mal wieder dünn gemacht.“ Graf Sternburg schnaubte wütend. „Im ersten Moment hatten wir schon befürchtet, er sei bei den Löscharbeiten verletzt worden. Aber es gibt keine Spur von ihm. Hätte ich mir denken können. Es wird unangenehm, da verdrückt er sich lieber.“
Volker hielt sich mit einem Kommentar zurück. Er mochte seinen immer gut gelaunten Onkel. Dass seine Eltern ihn nicht so schätzten – na ja, das war nicht sein Bier.
Es klopfte, gleich darauf trat Professor Scholl ein. Der grauhaarige Chirurg wirkte ernst, als er erst Joachim von Sternburg, dann Volker begrüßte. „Ich denke, Sie haben nichts dagegen, dass Ihr Vater die Untersuchungsergebnisse erfährt.“ Kurz sah er seinen Patienten an.
„Warum sollte ich? Dass ich eine Rauchvergiftung hatte, ist ja kein Staatsgeheimnis.“
Der Arzt biss sich kurz auf die Lippen, blätterte in den Unterlagen – obwohl er genau wusste, was sie enthielten.
„Darum geht es gar nicht“, erklärte er und schickte den Worten ein leichtes Räuspern voraus. „Wir haben Sie ja untersucht, weil Sie auch über Beschwerden im Bein klagten.“
„Komisch, nicht? Den linken Fuß breche ich mir, im rechten Bein tut’s jetzt weh.“
„Genau das ist das Problem – Ihr rechtes Bein.“ Der Arzt zögerte wieder, doch dann sagte er sachlich: „Unsere Untersuchungsergebnisse lassen nur einen Schluss zu: Sie haben einen Tumor im Knie.“
„Wie bitte?“
„Es gibt keinen Zweifel mehr. Sie erinnern sich an die Kernspin von gestern – die hat uns Klarheit verschafft: Es handelt sich zweifelsfrei um ein Karzinom.“
„Nein!“ Joachim von Sternburg begriff rascher als sein Sohn, was das bedeutete. Kurz hatte Professor Scholl die Befürchtung, der Graf würde ohnmächtig werden, doch gleich hatte Joachim sich wieder in der Gewalt.
„Was ist jetzt zu tun?“
„Bestrahlung. Chemotherapie eventuell. Das müssen wir abwarten. Noch ist der Tumor klein. Zum Glück. Aber man muss ihn energisch und ganz gezielt bekämpfen.“ Der Arzt hielt nicht viel davon, falsche Versprechungen zu machen. Nur wenn ein Patient begriff, dass die moderne Medizin viel vermochte, dass dies aber auch mit unangenehmen Begleiterscheinungen verbunden war, konnte eine Behandlung greifen.
„Und wenn das alles nichts hilft...“ Volker biss sich auf die Lippen. Endlich war auch ihm klar geworden, was die Diagnose bedeutete. „Dann muss ich wohl sterben.“
„Davon kann gar keine Rede sein. Es gibt noch... die Amputation. Aber wie gesagt – erst mal schöpfen wir alle anderen Möglichkeiten aus. Sie sind doch einverstanden?“
„Hab ich eine Wahl?“
„Nein. Aber Sie haben Chancen. Und ich verspreche, wir werden sie nutzen!“
Nein, die Welt brach nicht auseinander. Sie hörte nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde auf sich zu drehen. Und doch war sie für Volker auf einmal nicht mehr so wie noch vor wenigen Augenblicken.
Seine Augen brannten, als er seinen Vater ansah. Keiner von beiden war in der Lage, etwas zu sagen. Aber als sein Vater ihn in den Arm nahm, als er ihn hielt wie damals, als kleinen Jungen, begann zu Volker zu weinen.
+ + +
Das Klingeln des Telefons riss Tim aus tiefstem Schlaf. „Das ist ja ätzend“, murmelte er und tastete mit geschlossenen Augen nach dem Hörer. Die letzte Nacht war lang geworden, und Tim war froh, einen arbeitsfreien Tag vor sich zu haben. Bis weit nach Mitternacht hatten sie Außenaufnahmen gemacht. Alles hatte ganz easy begonnen – bis ein heftiger Frühjahrsregen alle Drehpläne über den Haufen geworfen hatte.
Bis fast vier Uhr hatten sie geschuftet, und jetzt wollte er nur eins: ausschlafen!
Das Telefon klingelte penetrant weiter, und endlich hatte er den Hörer ertastet. „Ich bin nicht zuhause“, nuschelte er.
„Tim. Ich bin’s – Volker.“
„Ach Alter, das ist jetzt ganz schlecht. Ich bin noch so groggy.“
Sekundenlang blieb es still. Dann sagte Volker nur drei Worte: „Ich habe Krebs.“
Mit einem Ruck saß Tim aufrecht im Bett. Keine Spur mehr von Müdigkeit. „Was?“
„Kannst du herkommen?“
„Bin gleich da.“
Eine Blitzdusche, während die Kaffeemaschine einen doppelten Espresso ausspuckte. Anziehen, ohne drauf zu achten, was er aus dem Schrank nahm. Dann die kurze Überlegung, dass er einfach nicht fahrtüchtig war. Zu müde. Zu durcheinander. Also rief er sich ein Taxi und ließ sich zur Klinik fahren.
Volker lag im Bett und sah ihm schweigend entgegen. Schatten lagen unter den Augen, nicht mal die Bräune, die vom letzten Skiurlaub herrührte, konnte sie verbergen.
„Alter, was machst du denn?“ Kurz umarmten sich die Freunde.
„Sie sagen, es wäre Krebs. Hier in meinem Knie.“ Volker wies auf das rechte Bein. „Morgen werd ich schon operiert. Der Professor sagt, dass jeder Tag zählt.“
„Was machen sie denn?“ Tim ließ sich auf der Bettkante nieder. Tausend Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, ließen sich aber nicht wirklich greifen und zu Sätzen formulieren.
„Erst mal versuchen sie ihn rauszuschneiden. Dann kommt die Bestrahlung. Chemo eventuell.“ Volker biss sich auf die Lippen. Das, was kommen konnte, wenn all diese Behandlungen nichts fruchteten, konnte er nicht sagen. Nicht mal seinem besten Freund.
„Ich... ich weiß gar nicht...“ Tim biss sich auf die Lippen.
„Musst nichts sagen. Es genügt, dass du gekommen bist.“ Volker schloss kurz die Augen. „Meine Eltern sind total von der Rolle. Mutter weint nur noch, und mein Vater... der hat auch im Betrieb den größten Ärger.“
„Ist der Brandstifter gefunden worden?“
„Nein, das nicht. Leider. Aber es gibt auch noch andere Schwierigkeiten.“ Er atmete tief durch. „Na ja, vielleicht klappt’s ja doch. Es kann doch nicht sein, dass ich endlich die Prüfung im Sack hab – und dann nie mal wirklich arbeiten kann.“
„Du packst das. Ganz bestimmt. Daran glaub ich fest – und das musst du auch.“
Eine Schwester kam und holte den Kranken zu weiteren Untersuchungen ab. „Wir sehen uns später.“ Betont lässig hob Volker die Hand. Aber in seinen Augen las Tim die Angst, die den Freund erfüllte.
Kerstin saß über ihrem Zeichenbrett, als er Sturm klingelte. „Hallo, ich dachte, du willst dich ausschlafen? Hattest du schon wieder Sehnsucht nach mir?“ Sie hob sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.
Nur flüchtig berührte Tim ihre Lippen. „Volker hat Krebs“, stieß er hervor. „Sein Knie... er wird schon morgen operiert.“
Kerstin sagte gar nichts. Doch ihre Augen wurden ganz schwarz vor Entsetzen. Lange saßen sie eng umschlungen in dem alten Ledersessel, den Kerstin von ihrem Opa geerbt hatte. Dieser Sessel hatte schon unendlich viel erlebt. Hier hatte sie als Kind gesessen und Geschichten gelauscht. Hier war ihr Opa gestorben, einfach so. Eingeschlafen. Ganz friedlich. Hier in diesem Sessel hatte sie Tim zum erstenmal erlaubt, sie zu lieben. Und jetzt... jetzt saßen sie beide ganz eng aneinander geschmiegt. Und still für sich beteten sie.
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„Diese Insel macht mich depressiv. Hier ist ja total tote Hose.“ Oliver von Sternburg saß im Bett und starrte übel gelaunt aus dem Fenster. Draußen wiegte sich ein Oleanderbusch sanft im Wind. In der Ferne schimmerte blaugrün das Meer, wie kleine Punkte sahen die Boote aus, die auf den Wellen schaukelten.
„Tote Hose... Darling, der Ausdruck ist total out. Man merkt, dass du nicht mehr der Jüngste bist.“ Ein laszives Lachen begleitete diese Worte, und die Hand der schönen Frau, die sich eben noch in den goldfarbenen Seidenkissen geräkelt hatte, tastete zu seinem Schritt. „Na Gott sei Dank – hier ist keine tote Hose.“
„Lass das, Vera!“ Brüsk schob er ihre Hand zur Seite.
„Nun sei doch nicht so fad! Ich hab noch vier Stunden Zeit bis zum Shooting.“
Oliver seufzte. Vera war im Bett eine Granate. Sie konnte immer. Wollte immer. Gönnte ihm seit Tagen keine Ruhe. Na ja, am Anfang hatte es auch ihm Spaß gemacht, hier auf Ischia zu leben, das schöne Fotomodell zu lieben, wann immer ihnen danach war. Das Haus, das für Vera gemietet worden war, lag ein wenig einsam auf einem Hügel oberhalb von Sant’ Angelo. Der Rest des Teams logierte in einem Luxushotel im Ort.
Vera und Oliver hatten sich in diesem etwas abgelegenen kleinen Bungalow einquartiert und gingen nur hinunter in den Ort, um etwas zu essen oder mit den anderen zu feiern.
„Ich will mit dir allein sein“, hatte Oliver gesagt und Vera vielsagend angeschaut. Dass er in Wahrheit vermeiden wollte, sich irgendwo im Hotel registrieren zu lassen, blieb sein Geheimnis.
Das schöne Fotomodell, das zusammen mit vier anderen Mädchen und zwei Männern auf Ischia für Wäsche- und Strandmode posierte, ahnte nichts von den Gedanken des Mannes. Vera hatte sich geschmeichelt gefühlt, als Oliver plötzlich vor ihrer Tür in München gestanden hatte. „Ich musste dich wiedersehen.“
Diese Lüge – sie ging ihm glatt von den Lippen. Skrupel zu haben hatte er sich schon lange abgewöhnt, die hinderten nur bei gewissen Geschäften.
Das, was in der Partynacht geschehen war, hatte ihn aber doch schockiert – und ihn bewogen, erst einmal unterzutauchen. Die Tatsache, dass Vera zwei Tage später nach Neapel flog und von dort aus nach Ischia übersetzte, kam ihm höchst gelegen. Innerhalb des Fototeams würde er nicht auffallen...
Immer wieder sah Oliver die brennenden Stallungen vor sich, hörte das schrille Wiehern der Pferde, die voller Panik waren, er sah seinen Bruder und seinen Neffen, die zusammen mit den Angestellten versuchten, den Brand unter Kontrolle zu bekommen. Auch einige der Gäste hatten geholfen. In dem Trubel, der herrschte, war es ihm gelungen, im letzten Moment aus der Sattelkammer zu flüchten. Das Bootshaus war sein erster Unterschlupf gewesen, dann war er bei Vera gelandet.
Verdammt, er war aber auch zu leichtsinnig gewesen! Die kleine Blondine, scharf wie nur was, hatte ihm total den Verstand geraubt. Schon beim Tanzen hatte sie ihn scharf gemacht. Und als sie ihm willig in die Sattelkammer folgte, als sie auch noch eine Strecke Kokain mit ihm nahm... ja, da war alles für die Nummer zwischendurch klar gewesen.
Warum nur hatte die blöde Kuh unbedingt rauchen müssen nach dem Sex! Fand das wahrscheinlich schick! Für einen Moment verfluchte er sich. Warum hatte er sich auf das junge Ding überhaupt eingelassen? Weil sie ihn angehimmelt hatte und willig gewesen war? Es war die Sache nicht wert gewesen!
Er hatte ihr die Zigarette aus der Hand geschlagen und gefaucht: „Im Stall wird nicht geraucht.“
Aber es war genau die falsche Reaktion gewesen. Die Zigarette landete in einem kleinen Strohballen, der begann sofort zu brennen... Wenn die hysterische Kuh nur nicht so geschrieen hätte! Und er... er hatte noch versucht, das Kokain aus der alten Truhe zu holen. Ein perfektes Versteck hatte es sein sollen – und war ihnen allen zum Verhängnis geworden.
Nicht mehr dran denken! Vera legte die Arme um seinen Nacken, schmiegte sich an ihn. „Kommst du gleich mit in die Thermen? Wir wollen das frühe Licht ausnutzen. Um die Mittagszeit ist dann frei.“
„Meinetwegen.“ Er schob die Hand in ihren Nacken, zog sie zu sich – und im nächsten Moment waren alle Selbstvorwürfe vergessen. Vera konnte ihn wirklich perfekt ablenken! Mit ihren langen Beinen umklammerte sie ihn, ihre Lippen waren überall, ebenso ihre Hände, die ihn so lange streichelten, bis er schier explodierte.
Eine Weile lagen sie matt in den seidenen Laken, dann stand Vera lässig auf. „Kommst du mit duschen?“
Er winkte ab. „Auf keinen Fall. Ich weiß, was du willst...“
„Gar nichts will ich.“ Sie lachte dunkel. „Es wird höchste Zeit für mich. Also, beeil dich auch ein bisschen.“
Oliver zog es aber vor, draußen kurz in den kleinen Pool zu springen und sich so frisch zu machen. Eine halbe Stunde später waren sie auf dem Weg zu den berühmten Poseidongärten. Das gemietete Cabrio schlängelte sich erst ein paar kleine Gassen entlang, kam auf eine Schnellstraße – und dann endlich waren die berühmten Thermenanlage erreicht.
Das Team wartete schon, die Stylistin kümmerte sich sofort um Vera, deren langes Haar im Fahrtwind getrocknet war und jetzt wild um ihren Kopf wehte.
„Lass die Haare erst mal!“, rief der Fotograf. „Das ist ganz in Ordnung so.“
Oliver schlenderte durch die Anlage, die sich über 55.000 Quadratmeter erstreckte. 17 Thermalbäder waren weiträumig auf dem Areal verstreut. Drei waren heute für die Badegäste abgesperrt, damit das Fototeam ungestört arbeiten konnte. Überall sonst herrschte reger Betrieb.
Für einen Espresso ließ sich Oliver an einer kleinen Bar nieder, und als er einen Kiosk mit Zeitschriften entdeckte, holte er sich zwei deutsche Blätter.
Gelangweilt las er ein paar Artikel – bis sein Blick auf ein Bild seines Bruders fiel: „Brandstiftung auf Gut Sternburg – die gräfliche Pferdezucht in Gefahr“. Der Journalist erging sich in vagen Vermutungen, ganz offensichtlich waren keine Details bekannt gemacht worden. Und dennoch brach Oliver der Schweiß aus. Angestrengt las er den Artikel ein weiteres Mal –nein, es gab wohl keine konkreten Hinweise. Und sein Kokain war auch nicht gefunden worden! Wenn doch, hätte der Reporter sicher in reißerischer Aufmachung davon berichtet.
Entspannt lehnte sich Oliver von Sternburg in seinem Stuhl zurück, legte die Zeitung zusammen und hob das Gesicht der Sonne entgegen.
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